Seite:Friedlaender-Interessante Kriminal-Prozesse-Band 8 (1913).djvu/7

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 8

Daß wir aber auch an weiblichen Blaubärten keinen Mangel haben, erhellt aus dem Prozeß gegen die Gräfin Tarnowska und Genossen (siehe dritter Band), aus den Prozessen gegen Frau v. Schönebeck in Allenstein, sowie der Damen Steinheil und Borawska in Paris und aus noch neueren Vorkommnissen. In demselben Saale, in dem sich im Hochsommer 1910 Frau Majorin von Schönebeck wegen Anstiftung zum Gattenmorde zu verantworten hatte, erschien sieben Jahre früher, im Juni 1903 ein weiblicher Blaubart vor den Geschworenen, die alle ihre Vorgängerinnen an Ruchlosigkeit und Grausamkeit weit in den Schatten stellte. Diese Massenmörderin gehörte keineswegs den unbemittelten Klassen an; sie war Besitzerin einer sehr wertvollen Landwirtschaft; sie schenkte nicht, wie der Erste Staatsanwalt im Plaidoyer ausführte, unbemittelten Jünglingen im Dorfe ihre Gunst. Auch hier waren Lüsternheit und Habsucht die Triebfeder des ungeheuerlichen Treibens dieser Megäre. Die Verhandlung enthüllte einen solch’ furchtbaren Abgrund von Verworfenheit und niederer Gesinnung, wie man sie bei einem weiblichen Wesen nicht für möglich halten sollte. Ich habe in meiner langjährigen Tätigkeit als Gerichtsberichterstatter so manchem verruchten Verbrecher ins Antlitz gesehen, dies Scheusal in weiblicher Menschengestalt, das am 18. und 19. Juni 1903 vor dem Schwurgericht zu Allenstein unter der Beschuldigung stand, ihre ersten vier Ehemänner in verhältnismäßig kurzer Zeit vergiftet zu haben, war jedoch in höchstem Grade geeignet, mich, den „wetterfesten Kriminalisten“ mit Ekel und Abscheu zu erfüllen. – Den Vorsitz in diesem forensischen Drama führte Landgerichtsdirektor Dr. Thiessen. Die Anklage vertrat Erster Staatsanwalt Nietzki. Die Verteidigung führte Justizrat Wolski. Dolmetscher der polnischen Sprache war Obersekretär Doehlert. Die Angeklagte, Frau Anna Przygodda, war eine kleine, etwas behäbige Frau mit nicht unintelligenten und auch nicht unschönen Gesichtszügen. Auf Befragen des Vorsitzenden gab sie durch den Mund des Dolmetschers

Empfohlene Zitierweise:
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 8. Hermann Barsdorf, Berlin 1913, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_8_(1913).djvu/7&oldid=- (Version vom 16.9.2023)