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welche das Gegengewicht bildet gegen die Gefahr hoher Vorzüge oder großer Leistungen und den Menschen in seiner wahren Gestalt erscheinen läßt, in seiner Licht- und Schattenseite, insofern er für sich selber, ohne Gott, nichts ist; sie bewahrt ihn vor Überhebung und Einbildung des Verdienstes vor Gott. Je höher der Baum gen Himmel strebt, desto tiefer senkt er seine Wurzeln in die Erde. (St. Pauli dreifacher Fortschritt in der Demut: der geringste unter den Aposteln – unter den Heiligen –, der vornehmste unter den Sündern.)

 Diese seine Sündhaftigkeit und die damit verbundene Schwachheit bringt ihm aber stetige Gefahr, zu verlieren, was er hat. Das erhält ihn munter und in der Wachsamkeit, Matth. 26, 41, und bewahrt ihn vor der Schläfrigkeit und fleischlichen Sicherheit.

 Der Mangel aber, den er beständig bei sich findet, treibt ihn zum Gebet, Jak. 1, 5. Das vielseitige Bedürfnis treibt zur Quelle der Gnade, um daraus zu schöpfen, zur lebendigen Übung und Pflege der Gemeinschaft mit Gott in Kraft des heiligen Geistes durch die vorgelegte Bitte, die ebenso befohlen ist, als sie Verheißung hat. „Das Gebet ist der wesentliche Ausdruck der Liebesgemeinschaft der Kinder Gottes gegen ihren Vater“ (cf. luth. Katechismus, Vaterunser-Eingang). Die Aufrichtigkeit, Spr. 2, 7, die Demut (Jak. 4, 6), die Wachsamkeit und das Gebet aber sind die subjektiven Mittel der Tugend und selbst Tugend, wenn man beim letzten Glied statt Gebet Gebetseifer setzt. Keine Tugend ohne Gebet.

 (Über Gebet im allgemeinen und Gebet im Namen Jesu siehe unten bei Askese.)

 5. Die christliche Tugend hat auch eine Beziehung zum geoffenbarten Gesetz, welches zugleich die äußere Norm der Tugend ist. Es ist dem Christen notwendig, obgleich ihm das Gesetz ins Herz geschrieben ist, d. h. obgleich er den Trieb des heiligen Geistes in seinem Gewissen hat, das Gute zu thun. Dieser Trieb wird entzündet zur Thatkraft und geregelt, d. h. vor Abwegen gesichert und auf sicherer Bahn geleitet, durch Vorhaltung der objektiven Norm des Gesetzes, d. h. der Pflicht, mittelst der Ermahnung, der Ermunterung, des Befehls, des Wunsches, der Bitte, auch der Warnung vor dem Gegenteil, der Sünde, und der Drohung, d. h. der Vorhaltung der unvermeidlichen Strafe. Das ist ein Reizmittel zur Tugend und eine Regel und Richtschnur, ein Mittel, das von außen kommt. Das rechte Verhalten gegen das Gesetz ist Pflichttreue und Gehorsam, der neue, innerer und äußerer, thätiger und leidender, williger, pünktlicher (ἀκριβῶς), freudiger