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verarbeiten, erinnert an den Melancholiker; das Greisenalter mit seiner sinnenden Beschaulichkeit und Neigung zu ungestörter Ruhe und Gemächlichkeit gleicht dem Phlegmatiker. Bei der sittlichen Beurteilung wird dieser Unterschied, wie auch die folgenden, in Betracht zu ziehen sein. – Jedes Alter neigt zu besonderen Fehlern und hat auch seine besonderen Vorzüge.

 Zur Naturbestimmtheit des Menschen gehört auch:

 3. der Geschlechtsunterschied.

 Das männliche Geschlecht charakterisiert sich durch vorwiegende Produktivität, welche Neues hervorbringt, und Aktivität, welche die Verhältnisse formend, belebend und vergeistigend beherrscht. Bei dem weiblichen Geschlecht herrscht die Empfänglichkeit, Bestimmbarkeit, Beweglichkeit vor. Der Unterschied ist leiblich und geistig gesetzt. Der vorhandene Gegensatz ist dazu bestimmt, sich gegenseitig zu ergänzen. Es hat jedes Geschlecht seine besonderen Vorzüge und Gebrechen.

 Zur Naturbestimmtheit des Menschen gehört endlich:

 4. seine Familien-, Stammes- und Volkseigentümlichkeit.

 Auch hier gilt, was von den anderen Naturbestimmtheiten gesagt ist.

 Einen sehr großen Einfluß übt auf den Menschen auch seine Umgebung, d. h. die Verhältnisse, in denen er aufwächst und lebt; die Menschen, die ihn umgeben, die Erziehung, die Sitten des Hauses, des Landes, die Denkweise des Zeitalters, in dem er lebt. Man sagt: „es ist jeder ein Kind seiner Zeit.“

 Alle diese Umstände sind bei der sittlichen Beurteilung und Bildung mit ins Auge zu fassen. Sie sind ein Faktor, der auch mitwirkt; aber der sittliche Zustand des Menschen ist niemals das Produkt der Naturbestimmtheiten allein, die der Mensch nicht in seiner Gewalt hat.

 Aus sämtlichen Naturbestimmtheiten, inneren und äußeren, bildet sich die natürliche Eigentümlichkeit des menschlichen Individuums. Diese ist eine gegebene und macht das Unterscheidende in der Person, wodurch sie sich von allen Individuen ihrer Gattung unterscheidet, deren jedes aber zugleich so beschaffen ist, daß es allen Individuen seiner Gattung gleich ist. Darin besteht das Gattungsleben; in dem Individuellen, Eigentümlichen aber das Personenleben. Wenn es nun der höchste Lebenszweck fordert, und es sittliche Aufgabe des Menschen ist, nicht für sich zu leben, sondern für andere, für die Gemeinschaft