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Erleuchtung und Übung dazu, den einzelnen Kasus unter den richtigen allgemeinen Satz zu stellen, das treffende Wort und analoge Beispiel zu finden, das Licht verbreitet über den fraglichen Gegenstand. Dies wird im allgemeinen beim Hirtenamt sich finden.

 Jedoch kommt es hiefür im einzelnen Fall sehr auf die Persönlichkeit an, auf die größere oder geringere Gabe des Hirten für die seelsorgerliche Behandlung und Beratung. Doch ist das Gemeindeglied nicht gerade an seinen Hirten gebunden; es kann jeden andern, zu dem es Vertrauen hat, aufsuchen, und ein rechter Hirte weist seine Schafe selbst zu den Besserberatenden ohne Neid. Aber auch bei dem Befragen der erleuchtetsten Männer ist die eigne Prüfung und Beratung nicht zu erlassen und sie ist auch möglich, denn 1. Joh. 2, 27 gilt von allen Christen und der Fortgeschrittenere soll nur Handreichung thun dem Geringeren. Auch andre begabte Glieder der Gemeinschaft können in ihrem Maße dienen. Es liegt ein göttlicher Segen auf den gemeinsamen Beratungen wichtiger Fälle. – Von der Anwendung des Loses siehe oben.

 Die Kirche hat einen außerordentlichen Schatz der Erfahrung und der seelsorgerlichen Weisheit in den gesammelten Bedenken und Entscheidungen hocherleuchteter Männer, die sie in schwierigen Fällen gaben. Wenn auch bei weitem nicht alle Entscheidungen genügen, so dienen sie doch, das Urteil zu klären. Es ist jedem Seelsorger unentbehrlich, wenigstens einzelne derartige Schriften zu besitzen, um sie zu gebrauchen. Am erwünschtesten wäre freilich eine Bearbeitung der einzelnen Fälle. Die Wissenschaft, die sich damit abgibt, heißt Kasuistik (theologia conscientiaria). (Löhe: Der evangelische Geistliche, II.) Die größten und erleuchtetsten Beichtväter und Kasuisten der römischen Kirche sind Philipp von Neri und Carlo Borromeo, Franz von Sales. Die Jesuiten haben die Kasuistik in Verruf gebracht, und die jesuitische Kasuistik verdient es auch. Die lutherische Kasuistik und die Sammlungen von Bedenken bieten einen großen Reichtum und sind von großem Wert für alle Zeiten. Von besonderem Wert sind auch die Konzilbeschlüsse und die constitutiones apostolicae, wie das Kirchenrecht. Alle diese Studien sollen dazu dienen, namentlich bei einem praktischen Geistlichen, das ethische Urteil zu schärfen, und ihn zu befähigen, ein guter Seelenberater zu sein. Die Gemeindeglieder aber sollen auch angeleitet werden, solchen Rat zu suchen. Wenn gut beraten wird, dann finden sich die Leute schon selbst herzu. Begabte, treue und erleuchtete Seelsorger, deren es aber nicht viele gibt, sind