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Die Heiligen des Protestantismus sind schlichter, einfacher, dem gewöhnlichen menschlichen Leben näher, weil der Protestantismus seine Anhänger lehrt, ihr Christentum in der Erfüllung des individuellen Berufes zu beweisen. So viel uns aber auch nach unserem Urteil an jenen Heiligengestalten, sonderlich denen des Mittelalters, abstoßend auffällt, so kann man ihnen doch eine gewisse Größe nicht absprechen, und es ist kein unwahres Wort, wenn man gesagt hat, für uns seien nicht nur die Tugenden, sondern auch die Fehler jener Heiligen zu groß. Sie wollen natürlich am Maßstab des göttlichen Worts gemessen und geprüft sein, und in allem, worin sie uns ein gutes Beispiel eines apostolischen Wandels hinterlassen haben, können und sollen wir uns zur Nachfolge ihres Wandels begeistern lassen. Beides, das öffentliche Gedächtnis der Heiligen in der Kirche und die Nachfolge in ihrem Wandel, ist nach Conf. Aug. XXI die rechte evangelische Weise der Heiligenverehrung. Der HErr stiftet ja jenem Weibe, welches ihn in Bethanien salbte, ein mit seinem Evangelium gleich ewiges Gedächtnis in seiner Kirche. Die Stellen Sir. 44–49 und Hebr. 11 haben der Kirche die Idee des Heiligenkalenders gegeben. Luther selbst empfahl die Beschäftigung mit dem Heiligenkalender zum Zwecke der Erbauung und war selbst gewissen Heiligen sehr zugethan, z. B. der heiligen Agnes. Georg Major hat vitae patrum herausgegeben.


§ 72.
Göttliche Direktiven auf dem Gebiet der individuellen Freiheit der christlichen Gemeinschaft (Kirche).

 Die göttliche Lebensführung geht ins einzelne und einzelnste, und es fehlt dabei, wie wir oben gesehen haben, nicht an Normen für die Christen, und auf besondern wichtigen Provinzen dieses Gebiets der individuellen Freiheit hat Gott in seinem Wort auch für bestimmte Weisungen gesorgt und göttliche Ratschläge gegeben; die Ausgestaltung des Lebens im einzelnen ist dem persönlichen Ermessen des Christen überlassen. Ähnlich verhält es sich mit der Kirche. Auch ihr ist ein Spielraum zu freier Entfaltung und individueller Ausgestaltung ihres Wesens gegeben. Aber die Gemeinschaft der Gläubigen, von denen jeweilen die Kirche im allgemeinen und einzelnen gebildet wird, ist dabei nicht völlig autonom; das Wort Gottes enthält für die verschiedenen Gebiete des kirchlichen Lebens (des Kultus, der kirchlichen Zucht, der Verfassung, der Amtsbestellung, der Seelen-,