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einem relativen (depotenzierten) Sinne gebraucht wird = nützlich, ersprießlich, rätlich, im Sinne des schöpfungsmäßig Guten (cf. Conf. Aug. XVIII naturale bonum) 1. Tim. 4, 4–5. Der Gegensatz, der hier möglich ist, ist also der von gut und besser, oder gut und minder gut und fällt zusammen mit dem Gegensatz von weise und thöricht, oder vollkommen weise und unvollkommen weise. Eben deshalb nimmt die verpflichtende Funktion des Gewissens hier die Form der Empfehlung, des Ratschlages, der göttlichen Weisung an. Während auf dem Gebiet des Verbotenen und Gebotenen durch unrechtes Handeln das Gewissen verletzt wird, so heißt es im andern Fall ausdrücklich, man sündigt nicht, 1. Kor. 7, 26: „So meine ich nun, solches (ehelos zu bleiben) sei gut,“ d. i. nützlich, empfehlenswert, rätlich, nicht geboten, v. 28: „so du aber freiest, sündigest du nicht.“

 Zu bemerken ist noch, daß es keine Kollision der Pflichten geben kann. Was man so nennt, ist es nur scheinbar. Welche Pflicht unter den sich um den Vorrang streitenden zu erfüllen ist, gibt die Überlegung der Gesamtsituation des Einzelnen, der sich in dem Fall findet, an die Hand. Daraus fließt die Einheit der Pflicht und des Handelns.


§ 25.
Die zweite abgeleitete Funktion des Gewissens ist die richterliche oder beurteilende und zurechnende.

 Nach der tatsächlich erfolgten Willensentscheidung sollizitiert (drängt) das Gewissen die Urteilskraft des Menschen zur Feststellung des Urteils über den sittlichen Wert oder Unwert der Handlung. Das Gewissen verwandelt sich hier gleichsam in ein Tribunal, vor welches der Mensch zur Verantwortung gezogen wird. Hier erhebt sich im Geist des Menschen jener Widerstreit, jenes pro et contra der anklagenden und – in selteneren Fällen – auch entschuldigenden Gedanken, von denen Röm. 2, 15 die Rede ist. Es geht an ein Vergleichen und Erwägen der einzelnen Momente, welche bei der betreffenden Handlung zu berücksichtigen waren, um schließlich festzustellen, ob richtig gehandelt war; ferner bei Vergehen, um zu ermessen, wie groß der Grad von Schuld ist, was sich zur Minderung der Schuld sagen läßt und was die Schuld zu erhöhen scheint. Dabei kommen auch falsche und unlautere Gedanken zum Vorschein; das Gewissen aber gibt schließlich den Entscheid und überführt den Menschen