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hat. Für das irrende Gewissen umkleidet sich solches, was in direktem Widerspruch mit Gottes Willen steht, was direkt Sünde ist, mit der Autorität einer göttlichen Forderung. Dieser Irrtum erzeugt die Schreckgestalt des Fanatismus, ζῆλος, Röm. 10, 2; Joh. 16, 2; Saulus, Akt. 26, 9.

 Das Gegenteil von diesen Erscheinungen ist ein gesundes Gewissen, welches mit ruhiger Klarheit die individuellen Bestimmungsmomente eines sittlichen Falles erfaßt und sie mit Energie unter die Instanz des Gewissens bringt und dessen Anspruch, unbeirrt von allen sonstigen Einflüssen, die sich dazwischenstellen wollen, festhält.

 Übrigens bindet auch das irrende Gewissen, Röm. 14, 13–15; 1. Kor. 8, 7–13; 10, 22–33. Wenn ein Mensch nach bestem Wissen und Gewissen handelt, so hat seine Handlungsweise, auch wenn er irrt, einen relativen sittlichen Wert, 2. Tim. 1, 3. Es fordert, daß es auch von andern als ein unantastbares Heiligtum geachtet wird, Röm. 14, 4. Doch ist es Pflicht, sein Gewissen für bessere Erkenntnis offen zu halten, und wenn man etwa glaubt, man könnte irren, den eigenen Standpunkt einer nochmaligen Prüfung zu unterziehen.

 Anm. 1. 1. Kor. 8, 10: Für sich selber würde es der einzelne nicht wagen, Götzenopferfleisch zu essen. Nun aber sieht er einen andern Christen, der sich nichts daraus macht, der von keiner Bedenklichkeit angefochten wird, ob es Sünde sei, in einem Götzentempel beim Opfermahl gegenwärtig. Nun denkt er: Was der kann, kann ich auch. Sein Gewissen warnt ihn; aber er hat selber kein sicheres und festes Urteil; er folgt lediglich dem fremden Vorgang und weicht dem Druck einer äußeren Autorität, aber ohne daß er innerlich überzeugt ist von der Rechtmäßigkeit seiner Handlungsweise.
 Anm. 2. Hieher gehört vielleicht Phil. 1, 9. 10. Nach diesem Spruch ist es ein geistliches Tastvermögen, welches auch für die feineren Unterschiede von gut und böse empfindlich ist, von Recht und Unrecht; „so daß ihr Prüfen könnt,“ sei es nun das Gegenteil des Guten zu unterscheiden, sei es nun, wie Luther übersetzt, „was das Beste sei, auf daß ihr seid lauter und unanstößig,“ „lauter“, durchsichtig, durchleuchtend, so daß die Sonne durchscheinen kann, für das Sonnenlicht durchleuchtig, also nicht verschlossen, nicht so, daß man Partien des inneren Lebens zu verschließen braucht, nicht Stücke von Finsternis mit sich herumträgt; und „unanstößig“; denn das ist ja eben die Frucht der Gewissenhaftigkeit, des zarten Gewissens, daß man auch die feineren Grenzlinien des Erlaubten und Nichterlaubten mit sicherem Takt einzuhalten vermag und deswegen vor innerem Vorwurf und äußerem Anstoß bewahrt bleibt, daß man nicht Ursache hat, Partien des inneren Lebens für das richtende Auge Gottes und für das Selbstgericht der Buße zu verschließen (was natürlich doch nicht möglich ist), sondern daß man vor Gottes Angesicht wandeln kann, so daß man Gott und Menschen durchsichtig ist. Infolgedessen