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zeigen, daß der tröstliche Teil der Offenbarung, die Verheißung, mit gemeint sei. Hier aber ist vom Gesetz im engeren, im dogmatischen Sinn die Rede. Darunter versteht man nicht den ersten Teil der alttestamentlichen Gesamtoffenbarung (sodaß der andere die Propheten sind), sondern den in der ganzen Schrift Alten und Neuen Testaments enthaltenen Teil der Lehre, welcher sittliche Anforderungen an den Menschen stellt, im Gegensatz zum Evangelium im engeren, dogmatischen Sinn, dem Teil der Lehre Alten und Neuen Testaments, der das Heil zusagt und gibt, Joh. 1, 17; so durchweg im paulinischen Sprachgebrauch, Gal. 2, 21; 3, 11.

 Der Gewinn, den die Offenbarung des Gesetzes bringt, geht zunächst auf die Erkenntnis und das Wissen um göttliche Dinge. Durch das geoffenbarte Gesetz wird es vor allem klar, daß es eine höhere Autorität sei, ein persönlicher Gotteswille, der fordernd an uns heran tritt, 5. Mos. 4, 2; Ps. 147, 19–20, während das Gewissen das nur ahnend erschließt. Ferner tritt im geoffenbarten Gesetz Gottes Wille formuliert und in bestimmten Sätzen, Geboten und Verboten, ausgesprochen, nach allen Seiten hin die Lebensverhältnisse regelnd, uns entgegen, also vollkommen klar und deutlich und unwandelbar, während das Gewissen weder allseitig, noch deutlich, noch sicher seine Verpflichtungen erkennen kann. Die Offenbarung des Gesetzes ist im innersten Grund eins mit der natürlichen Offenbarung im Gewissen; es gibt eine der andern Zeugnis von dem gleichen göttlichen Ursprung; aber die Erkenntnis, die aus dem Gewissen kommt, ist eine Dämmerung gegen das helle Licht, welches durch das geoffenbarte Gesetz uns scheint und das Gewissen erleuchtet. Der Hauptgewinn liegt also in der besseren Erkenntnis, welche nach Umfang und Tiefe, wie nach dem Grade der Gewißheit nicht zu vergleichen ist mit der Erkenntnis, die das Gewissen gibt. Man muß beachten, daß das alttestamentliche Gesetz wesentlich eins ist mit dem, was im Neuen Testament als Gesetzesbestimmung erscheint, wiewohl Christus die ideale Seite des alttestamentlichen Gesetzes erst recht ans Licht gestellt hat, namentlich das Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten, worin das Gesetz sich summiert und gipfelt. Deut. c. 6, 4–5; 11, 1; Lev. 19, 18; Matth. 22, 35–40. Wenn also das Gesetz nach seiner Tiefe und nach seinem Umfang gefaßt wird, so tritt der Mensch auf die Höhe der Erkenntnis und erkennt im Spiegel des Gesetzes das, was er sein soll: seine gottebenbildliche Gestalt.