Seite:George Sand Indiana.djvu/20

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mehr waren, die bei jungen, armen und leichtgläubigen Mädchen stets ein williges Ohr finden werden. Im Januar reiste Frau Delmare mit ihrem Gatten nach Paris; Sir Ralph Brown zog sich auf sein Gut zurück und Noun, welche zur Aufsicht des Landhauses ihrer Gebieter zurückblieb, konnte ungehindert ihre Freiheit genießen. Das war ein Unglück für sie. Der Wald mit seiner Poesie, die im Rauhreif geschmückten Bäume und ihre magische Wirkung im Mondlicht, das Geheimnis der kleinen Pforte, all dieses Beiwerk einer Liebesidylle hielt Herrn von Ramière in seinem Rausche gefangen. Im weißen Nachtgewande glich Noun, mit ihrem langen schwarzen Haar, einer Königin, einer Fee. Wenn er sie aus dieser Burg von rotem Backstein heraustreten sah, glaubte er, eine Burgfrau des Mittelalters zu erblicken, und in dem mit exotischen Blumen geschmückten Kiosk, wo sie ihn mit den Reizen der Jugend und Leidenschaft berauschte, vergaß er gern alles, dessen er sich später mit schwerem Herzen erinnern mußte. Aber dennoch war Noun nichts weiter als das Kammermädchen einer hübschen Frau. Der Mut, mit welchem sie ihren Ruf ihm zum Opfer brachte und der wohl verdient hätte, seine Liebe für sie noch zu erhöhen, hatte für ihn keinen Wert. Die Gattin eines Pairs von Frankreich, die sich auf solche Weise aufgeopfert hätte, wäre eine köstliche Eroberung gewesen; aber ein Kammermädchen! Was bei der einen Heroismus war, ward bei der anderen Frechheit, Gemeinheit.

Raymon liebte elegante Sitten, Poesie in der Liebe. Für ihn galt ein Mädchen von Nouns niederem Stande nicht als Frau. Man hatte ihn für die Welt erzogen, alle seine Gedanken auf ein hohes Ziel gelenkt, alle seine Fähigkeiten für ein fürstliches Glück entwickelt, und nur wider seinen Willen hatte ihn die Glut seines Blutes in eine bürgerliche Liebeständelei verstrickt. An den Tagen, wo seine Leidenschaft für die Geliebte am heftigsten war, hatte er wohl daran gedacht, sie zu sich zu erheben, ihre Verbindung gesetzmäßig zu

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George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 20. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)