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Siebentes Kapitel.

Am folgenden Morgen erhielt Raymon wieder einen Brief von Noun. Diesen warf er nicht verächtlich von sich, im Gegenteil, er öffnete ihn eilig. Das Geheimnis des jungen Mädchens ließ sich nicht mehr verbergen. Schon hatten Kummer und Verzweiflung ihre Wangen gebleicht. Frau Delmare bemerkte diesen krankhaften Zustand, ohne die Ursache zu erraten. Noun fürchtete die Strenge des Obersten. Sie wußte wohl, daß sie die Verzeihung ihrer sanften Herrin erhalten würde, aber die Schande und der Schmerz, zu einem furchtbaren Geständnis gezwungen zu sein, würde sie töten. Was sollte aus ihr werden, wenn Raymon nicht dafür sorgte, sie vor den Demütigungen zu bewahren, die sie zu Boden drückten? Er mußte endlich an ihr Schicksal denken, oder sie warf sich zu den Füßen der Frau Delmare, um ihr alles zu gestehen. Das war der verzweifelte Inhalt des Briefes.

Herrn von Ramières erste Sorge war, Noun von ihrer Herrin zu entfernen.

„Hüte dich, ohne mein Einverständnis zu sprechen,“ antwortete er ihr. „Richte es ein, daß du diesen Abend in Lagny bist, ich werde hinkommen.“

Während er sich nach Lagny begab, überlegte er, wie er sich benehmen solle. Noun war einsichtig genug, um nicht das Unmögliche von ihm zu verlangen. Sie hatte niemals gewagt, das Wort Ehe auch nur auszusprechen, und weil sie bescheiden und edelmütig war, meinte Raymon, er habe sie nicht betrogen und Noun hätte ihr Schicksal voraussehen müssen. Er wäre gern bereit gewesen, dem armen Mädchen die Hälfte seines Vermögens anzubieten, und ihr alle Unterstützung zu teil werden zu lassen, welche sie verlangen konnte. Seine Lage wurde aber dadurch peinlich, daß er gezwungen war, ihr zu sagen, er liebe sie nicht mehr; denn er konnte nicht täuschen. Er hatte Noun mit den

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George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/38&oldid=- (Version vom 31.7.2018)