Seite:Geschichte der protestantischen Theologie 630.png

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Wenden wir uns nach diesem äußern Umriß der Geschichte des Pietismus nun seinem innern Wesen zu, so weit es für die Geschichte der Theologie von Wichtigkeit ist, so sind es vornehmlich drei Punkte, die für Speners und der Seinen Plan zu einer Reform, oder besser einer Regeneration der Kirche in Betracht kommen:[1] die Theologie, die Kirche, die Welt der christlichen Sitte.

Eine Regeneration der Theologie will er nicht sowohl nach Inhalt als Form, nach der Art und Weise ihres Betriebs und der Methode des theologischen Studiums. Die lehrende Kirche soll im lebendigen Glauben stehen, in der Wiedergeburt, die Wissenden sollen vor allem auch Glaubende sein und nicht die Wissenschaft zum Ersatz der christlichen Frömmigkeit nehmen wollen, da vielmehr selbst wahre Wissenschaft den Glauben, die Wiedergeburt voraussetzt, wie auch seit Alters die Theologie als ein habitus practicus[2] bezeichnet zu werden pflegte und die πίστις als Basis aller γνῶσις[3] längst anerkannt war. Um zu dieser Umgestaltung der Lehrer zu gelangen, wird eine Umgestaltung des theologischen Studiums gefordert. Das Studium der heiligen Schrift als des sichersten Mittels zur Erweckung und Bekehrung und durch sie zur wahren Erleuchtung soll in den Mittelpunkt des Ganzen gestellt, alles Andere aber auf diesen praktischen Zweck der Selbsterbauung und der Bildung der Kraft, Andere zu erbauen, bezogen werden.

Der zweite Punkt betrifft die Kirche. Der Pietismus will nicht bloß eine Lehrerkirche, der die Hörer in Passivität gegenüberstehen, sondern eine lebendige Volkskirche. Spener bringt dem geistlichen Amt, das wieder in katholisirenden Gegensatz zu den „Laien“ getreten war, die Idee des allgemeinen geistlichen Priesterthums der Christen in Erinnerung, die er ächt reformatorisch auf die Wiedergeburt durch den rechtfertigenden Glauben baut und die er vor allem als Pflicht der Mitwirkung zum Reiche Gottes behandelt, als Recht aber insofern, als es nichts geben kann, wodurch das Recht seine Pflicht zu thun sistirt werden dürfte. Der Laien Passivität und Lethargie soll der endlichen Bethätigung des ethischen Triebes weichen, welcher auch nach der orthodoxen Lehre die sich von selbst ergebende Wirkung des Glaubens ist. Die Kluft zwischen dem Klerus und den Laien soll zum bloßen Unterschied werden zwischen leitenden Seelsorgern und Lehrern und


  1. Vgl. Niedners Kirchengeschichte 1862. S. 801.
  2. [habitus practicus, lat.: praktische Gewohnheit]
  3. [πίστις (pistis), gr.: Glaube; γνῶσις (gnosis), gr.: Erkenntnis]
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_630.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)