Seite:Geschichte der protestantischen Theologie 632.png

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zu stören drohte, auch eine andere Stellung zur Religion und Wissenschaft, zu Amt und Volk ihnen ansann, da warfen sie sich gegen die „Neuerungen“ in harten, leidenschaftlichen Conservatismus, und die Krankheit, die längst der Kirche in den Gliedern lag, kam nun zum vollen Ausbruch. Was bisher oft nicht eingestandene, obwohl übermächtige Neigung gewesen war, wurde nun zum ausgesprochenen Grundsatz, und es gehört zu den günstigsten Zeichen für den Pietismus, daß die Gegner, um ihn zu bestreiten, zum offenen Bekenntniß von Sätzen sich gedrängt sahen, die den evangelischen Geist verläugneten und für ein unbefangenes Auge eine Verletzung und Trübung der reinen reformatorischen Lehre enthielten, als deren allein treue Kämpen sie wollten angesehen sein. Eine Vereinerleiung der äußeren empirischen Kirche mit der inneren unsichtbaren, ja mit der Idee der Kirche, wie sie kaum im römischen Katholicismus sich findet, zeigt sich in einer Reihe von Behauptungen, die im Laufe des Streits ausgesprochen wurden. Schelwig meint, es sei sectirerisch zu sagen, der Kirche thue eine Reformation Noth. Denn „nicht die Kirche ist zu reformiren, sondern nur die Gottlosen in ihr.“ Ein aufrichtiger Lutheraner soll nicht klagen dürfen, daß die Kirche, d. h. die äußere Versammlung, viele Mängel habe, denn „damit wird die Kirche verunglimpft.“[1] Die Kirche, auch die äußere, ist vollkommen, im blühendsten Stande, denn sie hat „die reine Lehre.“ Die Wittenberger Facultät sagt in ihrer „Christlutherischen Vorstellung“ 1695: Die symbolischen Bücher sind nicht allein in Sachen und Lehren, sondern auch in andern Stücken die nach der Schrift der Kirche mitgetheilte göttliche und in allen Punkten verbindliche Wahrheit.[2] Mayer fordert von den Geistlichen die Anerkennung: in den symbolischen Büchern[3] sei nichts zu finden als Gottes wahres Wort,[4] und der Superintendent Simon, ein Nachtreter Mayers, fügt hinzu: auch wer in Articulis minus principalibus[5] irre, sei ein Ketzer (z. B. wer Speners feinerem Chiliasmus[6] anhänge) und von der geistlichen Brüderschaft auszuschließen.[7] Von einer fortgehenden Prüfung und Läuterung des Bekenntnisses an der Hand der Schrift soll keine Rede mehr sein; selbst der Unterschied


  1. Vgl. Schmid a. a. O. S. 234. 235.
  2. a. a. O. 244.
  3. [Symbolische Bücher sind die Bekenntnisschriften]
  4. a. a. O. 239.
  5. [Articulis minus principalibus, lat.: weniger grundlegende Artikel/Glaubenssätze]
  6. [Chiliasmus ist die Erwartung eines tausendjährigen Reichs (Millennium) auf Erden unter der Herrschaft Jesu Christi]
  7. a. a. O. 185.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 632. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_632.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)