Seite:Geschichte der protestantischen Theologie 647.png

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durch äußere Zucht und unkindliche, an ein vorzeitiges Reflexionsleben gewöhnende Methodik der Anerziehung christlicher Frömmigkeit zu fesseln,[1] erzeugte aber dadurch viel Unnatur und innere Unwahrheit und verfiel dem Geiste der Gesetzlichkeit, der zwar ansteckende Kraft bewies und nach des Gesetzes Art durch Richten und Scheiden, durch geistlichen Hochmuth und Lieblosigkeit in dem Volksleben zersetzend genug wirkte, der aber an der Kraft einbüßte, in Gott freie Persönlichkeiten zu zeugen. Vielmehr nicht wenige der Häupter des Rationalismus sind aus dieser pietistischen Schule hervorgegangen.

Während aber so der Hallische Pietismus nur in anderer Art als die alte Orthodoxie verknöcherte und geistesmatt wurde, hatte unabhängig von Halle dieselbe Bewegung der Geister, die in Spener ihren vornehmsten Vertreter hatte, zwei neue kräftige Sprossen getrieben, welche, wenn schon nicht extensiv an Bedeutung dem Hallischen Pietismus gleichkommend, doch durch ihren merklich von ihm verschiedenen Charakter weit intensiver und nachhaltiger wirken sollten, indem sie wesentliche Mängel abstreiften und wahrhaft kirchliche Elemente, die dem älteren Pietismus noch fehlten, sich aneigneten. Wir meinen Zinzendorf mit der Brüdergemeinde, und Johann Albr. Bengel mit seiner Schule, beide darin eins, daß sie die christliche Freiheit und die Lieblichkeit des Evangeliums kennen[2] und einen tiefen


  1. Der Pietismus drang mit Recht auf Wiedergeburt und Heilsgewißheit und nahm die erstere in ernsterem Sinn als die Orthodoxie, die darin nur die göttliche Mittheilung der Kraft zu glauben sah, ja schon in der Kindertaufe sie als vollzogen annahm (s. o. S. 578). Aber der Pietismus verlegte sie in das bewußte Leben dergestalt, daß er die objective Basis der zuvorkommenden christlichen Gnade, auf der allein das neue Leben sicher ruhen und fröhlich wachsen kann, aus dem Auge verlor, sowie den Sinn für die Unmittelbarkeit und reine Natürlichkeit; indem er aber dem Streben nach Heilsgewißheit wieder eine höhere Bedeutung gab, gerieth er immer mehr statt kindlichen tapferen schlichten Glaubens in krankhafte Selbstbespiegelung, in ein geistliches Reflexionsleben. Das stete sich Fragen aber: ob man den rechten Glauben, die Wiedergeburt, die Kindschaft habe (das auch in der reformirten Kirche dieser Zeit einreißt), veranlaßte eine innere Unsicherheit, ein Herumtasten nach unsichern, ja selbstgemachten Kriterien der Kindschaft, das auf unevangelische Abwege führen konnte. Erst der württembergische Pietismus hat sich mit klarem Bewußtsein wieder der gesunden evangelischen Weise zugewendet (vgl. Burk, die Lehre von der Rechtfertigung), indem er daran erinnert, daß nicht das Bewußtsein die Kindschaft bewirke, sondern daß das kindlich gläubige Gemüth seiner Zeit auch zum Bewußtsein seiner Gotteskindschaft gelange.
  2. Vgl. z. B. was Bengel betrifft, Osc. Wächter, Joh. Albr. Bengel, Lebensabriß, WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt Character, Briefe und Aussprüche, 1865. S. 361, wo Bengel von denen spricht, die wohl etwas Ernsthaftes, Strenges, Hartes haben, aber bei denen die rechte Tiefe der göttlichen Worte und Geheimnisse, die süße, sanfte, holde Art nicht da sei – S. 391 f. Darauf kommt es ihm an, daß man geraden Weges (actu directo) glaube, nicht aber immer mit Reflexionen über seinen Glauben sich aufhalte. Die Forderung der fides reflexa (des bewußten Glaubens) können manchen gerade irre und stutzig machen, der auf gutem Wege sei, ähnlich wie ein Kind, das zu gehen anfängt, wenn man es beschreiet und saget: fällst du nicht? eben darum fällt. Dagegen Leute von der Geistesart der Korinthier müsse man zu actus reflexi zu bringen suchen. Bengel ist auch in Geist und Sprache voll Leben, Munterkeit, Plastik, fern von allem Formalismus methodistischer Bekehrungsweise, S. 418. So hat er auch von den Mitteldingen gesagt: ich bin kein Freund davon, aber man hat es gar zu hoch gespannt. Eine natürliche Fröhlichkeit ist vergleichungsweise noch eher zu ertragen, als eine ebenso natürliche, aber viel beschwerlichere Traurigkeit. S. 422 f.
Empfohlene Zitierweise:
Isaak August Dorner: Spener und der Pietismus. J.G. Cotta, München 1867, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Geschichte_der_protestantischen_Theologie_647.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)