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Walther Kabel: Gletscherleichen. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 8, S. 212–216

Zugehörigkeit der im Vatnajökull zutage geförderten Leichen zu der Schar jener Unglücklichen, die im Jahre 1783 vor den Giftgasen der Vulkane in die Schneewüsten geflüchtet und dort zugrunde gegangen waren. Ja, man konnte sogar mit ziemlicher Bestimmtheit die Stelle bezeichnen, wo die vierzehn Personen damals auf dem Gletscherfelde umgekommen waren, denn nach langjährigen Beobachtungen der Vorwärtsbewegung jenes Seitenstromes des Vatnajökull berechnete man die Schnelligkeit jenes Gletscherteiles auf 0,2 Meter am Tage, das heißt die Leichen mußten in den dreiundneunzig Jahren einen Weg von ungefähr 678 Meter zurückgelegt haben.

Housding versuchte eine dieser Gletscherleichen, die gerade ihres hohen Alters wegen für die Wissenschaft von so großer Bedeutung waren, nach England mitzunehmen. Aber auch in dem damals als Konservierungsmittel allein gebräuchlichen Spiritus zerfiel der betreffende Leichnam auffallenderweise bereits nach wenigen Tagen vollständig, so daß man auch diese Überreste noch auf isländischer Erde bestatten mußte. –

Am 14. Juni 1854 wurde der französische Alpinist Baron Vilaneuf bei dem Versuch einer Besteigung des Aletschhorns zusammen mit zwei Führern von einer Lawine verschüttet. Da am Abend furchtbare Schneestürme eintraten, die zwei Tage anhielten und jede Spur der Verunglückten verwehten, kehrten die zur Wiederauffindung der Vermißten ausgeschickten Rettungsexpeditionen sämtlich unverrichteter Sache zurück. Man wußte jedoch ungefähr, an welcher Stelle auf dem Großen Aletschgletscher die drei Männer umgekommen waren, und berechnete daher auch in diesem Falle später ungefähr als die Zeit, wann dieser mächtige Eisstrom die Leichen wieder herausgeben würde, das Jahr 1886. Und wirklich wurde – man hatte sich nur um ein Jahr geirrt – im Jahre 1887 von Einwohnern von Neuboden am Fuße des Großen Aletschgletschers ein Leichnam gefunden, der, trotzdem ihm der Kopf fehlte, als der des Barons Vilaneuf rekognosziert werden konnte. Erst im folgenden Jahre traten dann auch der völlig zermalmte Kopf und die Leiche des einen Bergführers zutage. Die des zweiten hält der Eisstrom noch heute fest.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Gletscherleichen. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 8, S. 212–216. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1912, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gletscherleichen.pdf/4&oldid=- (Version vom 1.8.2018)