Seite:Glueckel 045.jpg

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Schiffer: »Die Frau gibt an, wie ein Vogel war vom Himmel auf die Erde geflogen, ohne Flügel, und setzt sich auf ein kleines Bäumlein, gar hübsch und gar fein. Er wendet und kehrt das Bäumlein hin und her, man sieht den Vogel nimmermehr. Er kräftigt das Bäumlein, bis es tut blühen die schönsten Blumen. Es zieht an sich alle Kräfte, die es nur kann bekommen. Unversehens dorrt das Bäumlein und wird ganz vergiftet. Der Vogel fliegt von ihm in die Luft, hebt an zu singen und zu brummen und schreit: ,Ei du betrübtes Bäumlein, wer hat dir deine Kräfte genommen? Da du sie gern gehabt hast, kannst du sie nicht bekommen – nun hast du sie durch mich bekommen, so verdorrst du.‘ Was hilft es dir nun, mein König? Das ist ihr Rätsel, welches mir nicht möglich ist zu treffen.«

Und als der Schriftgelehrte das Rätsel hört, entsetzt er sich gar sehr, denn er wußte, daß es sein Rätsel war, und merkte, daß dies sein Weib sein müßte.

Und der Schiffmann sah, daß der Schriftgelehrte so erschrak; da spricht er zu ihm: »Lieber Herr, warum erschreckt ihr also?« Und er anwortet und sagt: »Ich verwundere mich über das herrliche, vernünftige Rätsel. Ich möcht es von der Frau selber gerne hören. Vielleicht habt ihr was vergessen oder mehr zugesetzt. Wenn sie es auch so erzählt, dann will ich darüber nachdenken, vielleicht möcht ich es erraten.« Und es sendet der Schriftgelehrte einen seiner Knechte als Boten zu ihr, und der Knecht läuft gar geschwind und sagt zu ihr: »Bereitet euch vor, ihr sollt mit zum Fürsten gehen und sollt mit ihm essen und trinken und mit eurem Manne.« Als die gute Frau das hörte, klopfte ihr das Herz, denn sie wußte nicht, warum sie dahin geführt wird, und besorgte, ob sie nicht von einem Unglück in ein größeres kommen sollte. Was sollte die gute Frau aber tun? Sie mußte gehen, wohin man sie führte. Nun, sie bekleidete sich und zierte sich wie eine, die vor einen König gehen soll. Als sie in das Schloß kam, sagt man sie beim König an und er spricht, man solle sie hereinlassen. Also ward sie hineingeführt, man gibt ihr einen

Empfohlene Zitierweise:
Glikl bas Judah Leib: Die Memoiren der Glückel von Hameln. Wien, 1910, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Glueckel_045.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)