Seite:Glueckel 049.jpg

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Herr, unser Vater war ein wohlgelehrter Mann, der hat das Rätsel erdacht und die Bescheidung darauf gestellt. Also kann es keiner recht bescheiden, als wir oder unser Vater.« So spricht der Fürst: »Wenn ich es nun recht bescheiden sollte, wäre ich dann darum euer Vater?« Sie antworteten ihm: »Wenn einer das Rätsel mit der Wahrheit bescheidet, so muß es unser Vater sein, denn er hat das Rätsel sein Tag keinem Menschen gesagt, als uns Knaben, und wir haben es nicht ausgegeben bis jetzunder.«

So spricht der Fürst: »Nun vernehmt doch einmal meine Bescheidung, vielleicht möchte ich die Wahrheit sprechen.« Und es sprach der König sodann: »Nach meinem Verstand ist die schöne Jungfrau die Jugend von den Knaben. Sie denken den ganzen Tag nichts anderes als an die schönen Jungfrauen, also sehen sie bei Nacht im Traum auch, als wäre vor ihnen eine schöne Jungfrau. Aber sie sieht nicht mit ihren Augen, weil sie sich nur in finsterer Nacht im Traum gezeigt hat. So helfen die Augen nichts, denn wenn schon die Augen offen sind, so sieht man nichts. Darum kann die schöne Jungfrau mit ihren Augen nichts sehen. Sie geht gegen morgen hinweg – wenn der Mensch morgens aufwacht, so geht der Traum hinweg – und bleibt den ganzen Tag fort, bis sie sich nachts wieder zeigt mit hübscher Zierung, die nicht vorhanden ist in der Welt. Das ist gut zu verstehen, denn da er alles nur im Traum gesehen hat, so ist die Zierung auch nicht vorhanden. Da habt ihr nun die Bescheidung. Wollt ihr die Wahrheit bekennen, so will ich euch als meine Kinder annehmen.« Und die Knaben wunderten sich über die Bescheidung und sie lugten einer auf den andern. Sie erkannten, daß dieses ihr Vater ist, und huben vor großer Freude an zu weinen eine Weinung eine große und sie konnten vor großem Schrecken nicht reden.

Ihr Vater und ihre Mutter sprangen auf von ihren Stühlen, darauf sie saßen, und sie halsten und küßten die Kinder und weinten miteinander eine große Stimme, daß man es so weit gehört hat, bis man hörte, daß die Knaben ihre Kinder waren. Erst lange danach ermannten sich die

Empfohlene Zitierweise:
Glikl bas Judah Leib: Die Memoiren der Glückel von Hameln. Wien, 1910, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Glueckel_049.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)