Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens II 077.jpg

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Er lief also, durch den Regen hindurch, zu der Fichte hin und stellte sich darunter. Kaum hatte er aber zwei Augenblicke gestanden, als der Baum seine Aeste zur Erde senkte, wie ein geschlagener Haushahn seine Flügel, und als das Wasser, das seine Zweige trugen, auf den Jünger wie mit Kannen herabgoß. Da bemerkte der letztere, daß draußen auf dem Felde die Sonne schien und er aus dem Regen unter die Traufe gekommen war. Er griff daher rasch nach seinem Stabe und lief dem Herrn und den übrigen Jüngern nach.

Der Herr Jesus sah ihn an und schwieg; der Jünger aber schlug die Augen nieder und erröthete.

Zum Wahrzeichen allen Zweiflern läßt der Baum seine Aeste hangen bis auf den heutigen Tag.


686) Sage vom Entstehen des Stelzenbaumes.
Nach mündlicher Ueberlieferung bearbeitet von Julius Schanz.

In dem Dorfe Thossen war einmal ein guter ehrlicher Schäfer, der schon manchen Winter erlebt hatte, ohne daß sein Haar grau geworden wäre, und der manchen heißen Sommer hindurch die Schaafe mit seinem Spitz treulich bewacht hatte. Noch niemals hatte er ein Schaaf durch den räuberischen Wolf verloren, als er endlich doch von diesem heimgesucht ward. Der Alte hatte sich ein Wenig niedergelegt, um zu schlafen, der Hund war einer Hasenspur gefolgt, und der Wolf, der im Busche gelauert hatte, raubte zwei Schöpse, ohne daß es Jemand bemerkte. Als der Hirt am Abend heimtrieb und der Herr unter der Thüre des Schafstalles stand, und die Heerde musterte, vermißte er die zwei Schöpse und ließ den Alten hart an. Betrübt lief dieser davon, die Verlorenen zu suchen. Da kam ein Knecht des Herrn, der dem Schäfer feind war, und verkündete mit geheimnißvoller Miene, daß der Fleischer so eben zwei Schöpse von der Heerde nach der Stadt getrieben. Der Herr glaubte steif und fest, es seien die seinigen gewesen und lief stracks

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_II_077.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)