Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens II 155.jpg

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der Dämmerung soll sich daselbst zuweilen eine weiße Gestalt blicken lassen. Jene Sage aber lautet also:

Einst soll ein Bürgermeister von Budissin eine wunderschöne Tochter gehabt haben, um deren Hand die reichsten und schönsten Jünglinge der Stadt und Umgegend vergebens warben. Vorzüglich bemühte sich ein reicher Kaufmannssohn, der aber freilich von Seiten seines Charakters nicht das beste Lob hatte, ihre Liebe zu gewinnen. Da er ein schöner Mann war und seine Verhältnisse glänzend, so hätte es ihm vielleicht geglückt, der Jungfrau Herz zu erobern, allein da begab es sich, daß dieselbe eines Morgens den Rabenberg erstieg, um sich an der herrlichen Aussicht von diesem Punkte aus zu erfreuen und hier einem fremden Ritter begegnete, der sie um den nächsten Weg nach der Stadt fragte. Noch nie hatte der Anblick eines Mannes einen so tiefen Eindruck auf ihr reines Gemüth gemacht als in diesem Augenblicke, und als nun an demselben Tage ihr Vater ihr denselben Jüngling als einen an den Rath der Stadt gesendeten kaiserlichen Gesandten vorstellte, widersprach sie ihm nicht, als derselbe von gleicher Neigung entzündet, ihr sein Herz und seine Hand anbot. Nicht lange dauerte es, so ward die Hochzeit der beiden Liebenden gefeiert, nur ein Mensch schwur ihnen Rache, und dies war der zurückgewiesene Freier. Derselbe verheirathete sich bald darauf selbst und schien allen Gedanken an seine frühere Geliebte entsagt zu haben. Da begab es sich einst, daß der Gemahl der schönen Bürgermeisterstochter zum Kaiser entboten ward und sie mit ihrem Knäblein, das sie demselben kurz zuvor geboren, allein zu Hause war, da sie ihre Dienerin zu einer Vergnügung entlassen hatte. Diese Gelegenheit benutzte jener tückische Bösewicht, schlich sich in’s Haus, und während Mutter und Kind im süßen Schlafe lagen, ermordete er gefühllos das unschuldige Wesen. Als nun aber das unglückliche Weib erwachte und ihr Kind im Blute sah, da vergingen ihr die Sinne, und als sie wieder zu sich kam, fand sie sich im Kerker wieder. Sie hatte in der Fieberhitze sich als Mörderin ihres Säuglings angeklagt,

Empfohlene Zitierweise:
Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_II_155.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)