Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens II 308.jpg

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Rathe speiste, und darauf hatte der hochedle Stadtrath lange gewartet. Flugs kamen die Stadtknechte und henkten einen Dieb an den Galgen. Als sich nun die Herrschaften zu Tische setzten bei dem Rath, gab es auf der Tafel, denn die Sonne schien gerade recht schön, ein gar kurzweiliges Schattenspiel, denn so wie ein Windstoß den Gehenkten am Galgen schaukelte, so lief dessen Schatten über die Tafel und besonders über den Teller des Fürsten, und wollte demselben kein Bissen schmecken, so daß er ungnädig aufstand und das Haus verließ.

In der Nacht darauf wurde der Galgen niedergerissen, denn der fürstliche Rath ließ dem hochedlen Stadtrath vermerken, wie er sich wundere, daß man den schönen Markt mit dem Galgen verunreinigen lasse, der Stadtrath aber that, als ob er den Galgen, der doch ein altes Denkmal sei, gar nicht gern wegräume.


6) Die rothen Spitzen.
S. Sachsengrün 1861 S. 41.

Als einstmals der Deutsche Kaiser Friedrich der Rothbart in Altenburg gewesen ist, es ist das aber schon siebenhundert Jahre her, hat er gesehen, daß Altenburg nur wenige Thürme hat, und er hat ein Paar Thürme bauen wollen. Aber er hatte just keinen Baumeister und Steinmetzen, der ihm einen Plan dazu machte. Da fiel ihm ein, daß sein rother Bart, der zweispitzig war, eine Spitze lang, eine Spitze kürzer, gar wohl geeignet sei, die Thürme nach ihm zu bauen. Und so geschah es. Unten wurden die Thürme durch ein Zwischenbau verbunden, oben ragten beide heraus, aus rothen Ziegelsteinen gebaut, der rechte Thurm länger, der linke kürzer, gerade wie die Bartspitzen. Oben darauf kamen spitzige Dächer mit Schiefer gedeckt und schauten nun über die ganze Stadt weg. So stehen sie noch heute dort, die rothen Spitzen, und kann man sich an ihnen einen Begriff machen, wie Rothbarts Bart beschaffen gewesen.

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 2. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_II_308.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)