Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens I 154.jpg

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mit seinen Schaafen nach Hause; aber kaum waren diese besorgt, da war er auch schon wieder am Stromesufer, und wie er hinüber schaute und beim Mondenlicht hoch oben auf dem Felsen das Mädchen stehen sah, da hielt er sich nicht, es zog ihn mit tausend Armen hinüber, und da er ein wackerer Schwimmer war, so hatten die blauen Wogen ihn schnell ans andere Ufer getragen und bald war er oben auf dem Gipfel des Felsens. Hier sagten sich die beiden jungen Liebenden in Worten, was sie sich längst schon mit Blicken mitgetheilt hatten; aber die Zeit verstrich zu schnell und schon war es Mitternacht, als der Schäfer seine Schäferin verließ und auf demselben Wege in seine Heimath zurückkehrte. Am nächsten und den folgenden Abenden schwamm der verliebte Jüngling, solange der Mond die Erde erleuchtete, wieder nach dem Singestein und eine Ewigkeit schien es den Liebenden, bis derselbe nach seiner Umlaufszeit wieder sichtbar ward und dem nächtlichen Schwimmer leuchten konnte, und dreimal schon hatte er seine Bahn vollendet und der Hirt hatte eines Abends versprochen, morgen zum letzten Male herüber zu schwimmen, denn am nächsten Sonntag wollte er zu den Aeltern des Mädchens kommen und um die Hand desselben bitten. Siehe da wartete gerade an diesem Abend die Hirtin vergeblich auf dem Felsen, sie sang ein Liedchen nach dem andern, welches den Geliebten einladen sollte, allein er kam nicht, und als sie am andern Tage ihre Ziegen austrieb, da sah sie wohl die Schaafe wie gewöhnlich am andern Ufer, aber ein anderer Hirt weidete sie. Wie sie nun diesen und die folgenden Abende vergeblich auf ihren Geliebten wartete und er immer nicht kam, da kam ihr der Gedanke, es möge ihm ein Unglück widerfahren sein, und als es mittlerweile Mitternacht geworden war, ehe sie sich von der ihr so lieb gewordenen Stelle trennen konnte, sah sie auf einmal eine weiße Gestalt über dem Strome schweben, sich dem Felsen nahen, ihn ersteigen und immer näher auf sie zu kommen. Voll Schreck vermochte sie weder ein Wort zu sprechen, noch den Platz zu verlassen; da trat der Schatten vor sie hin und

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_I_154.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)