Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens I 304.jpg

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gezogen, und zwar in ein Haus am Baderthore. Dieser hatte eine einzige Tochter, welche täglich von der Stadtmauer auf der Neusorge aus einen wohlgebildeten und geschickt gebauten Jüngling gehen sah, in den sie sich so verliebte, daß sie ihn zu heirathen Verlangen trug. Nun ruft sie ihm einmal von der Stadtmauer herab zu und fragt, ob er nicht eine Leiter bekommen könne, daß sie auf dieser herabsteigen und mit ihm reden könne. Dieser Jüngling, mit Namen Martin Hahn, der nur Tagearbeit verrichtete, bewerkstelligte dies auch, und so eröffnete sie ihm ihre Gesinnung und sagte, wenn er sich verheirathen wolle, so wolle sie ihn zu ihrem Manne nehmen. Ob er nun wohl einwendete, ihr Herr Vater werde solches nicht geschehen lassen, so überredet sie ihn doch, daß er zum Oberpfarrer geht und sich aufbieten läßt. Er thut es auch, allein der Oberpfarrer meinte gerade wie der Jüngling, es werde ihr Vater dies nicht bewilligen, erbietet sich aber, selbst zu demselben zu gehen und es ihm beizubringen, und so er es geschehen lasse, brauche es bei dieser Zeit keines Aufbietens, sondern er wolle sie gleich ohne Aufgebot trauen. Der Hauptmann aber giebt dem Oberpfarrer zur Antwort, ehe er das geschehen lasse, wolle er seine Tochter erschießen. Wie das die Tochter erfährt, giebt sie dem Jüngling einen Speciesthaler, daß er in einen Weinkeller gehen, und ein Paar Kannen Wein, auch etwas Semmel kaufen solle, sie aber wolle ihn am Maienborn erwarten. Da das geschehen, trauen sie sich selbst in Gottes Namen an diesem Brunnen, verloben und binden sich, keins von dem andern zu lassen. Nach solcher Verrichtung geht der Jüngling wieder zum Oberpfarrer und erzählt, was geschehen sei, derselbe verspricht ihm, er wolle deshalb Bericht an das Oberconsistorium erstatten, und sollten sie die Antwort bald hören. Darauf bekommt der Hauptmann den allergnädigsten Befehl, bei Leib- und Lebensstrafe sich nicht an seiner Tochter zu vergreifen, es sei vor Gott ein Mensch so gut als der andere, er solle solches für Gottes Schickung halten, da ohnedem bei dieser Zeit das Heirathen ganz vergessen und wenige Eheleute vorhanden

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_I_304.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)