Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens I 437.jpg

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der Mund mit Erde angefüllt ward, den sie im Schlafen offen gehalten.

Als nun die Näherin nicht wieder mit dem Gespenst allein gehen wollte, hat dieses ihr vorgeschlagen, das 3jährige Söhnlein des Superintendenten mitzunehmen, von welchem die weiße Frau gesagt, sie habe sich gefreut, als es geboren worden, denn es werde sie erlösen. Wirklich hatte man bemerkt, daß seit der Geburt dieses Kindes sich das Gespenst sehen ließ, es kam auch mit einem großen Bund Schlüssel in die Kammer, wo die Schwester des Superintendenten schlief, und sagte, „nun ist der geboren, der mich erlösen wird!“ Als später die Kindermagd einmal das Knäblein mit sich in’s Bett genommen, ist das Gespenst gleich darauf losgegangen und hat es aus dem Bette reißen wollen mit den Worten: „harre, harre, Du bist mein!“ Darüber ist die Magd aufgewacht, hat aber das Kind so fest an seinem Hemdchen gehalten, daß dasselbe entzweiriß, das Gespenst hat aber das Kind fahren lassen und ist auf die Magd gefallen und hat solche dermaßen gedrückt, daß sie kaum mehr Athem holen können. Von dieser Zeit an hat sich das Gespenst aber auch in der eigenen Schlafkammer des Superintendenten, wo dessen Söhnlein in einem Gitterbettlein schlief, eingefunden, hat dasselbe öfter beunruhigt, die Flügel in dem Bettchen aufgemacht und es gereizt, es solle aufstehen und mitgehen, sie wolle ihm schöne gelbe Pfennige geben, es hat auch dergleichen Goldstücke mitgebracht und dem Kinde gezeigt. Während dem ist aber die Näherin einmal über das andere von dem Gespenste genöthigt worden, sie möge doch nur einmal mitgehen, weil auch das Kind mitkommen werde, es solle weder ihr noch diesem etwas zu Leide geschehen und sie werde so viel finden, daß sie für ihre Lebtage davon genug haben werde. Daher hat sie eines Tages ihre Zeit und Gelegenheit abgesehen, ist auf das Geheiß des Gespenstes aufgestanden und in die Studirstube gegangen und hat dort so lange geharrt, bis die weiße Frau das Knäblein aus seinem Bettchen genommen, auf den Arm gehoben und hineingebracht

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_I_437.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)