Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens I 514.jpg

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es war ihr, als spinne sie ihr Leichenhemd. Sie nahm also das Gesangbuch und die Bibel zur Hand, allein Alles half nichts, es wollte keine Ruhe in ihr ängstlich schlagendes Herz einziehen. Endlich hörte sie die Glocke zur Frühmette lauten, sie eilte heraus, um zu sehen, ob ihr Bräutigam zurückgekehrt sei, allein weder jetzt noch nach dem Schlusse der Mette ließ er sich sehen. Endlich hatte sie keine Ruhe mehr, sie bat einen ihr freundlich gesinnten Nachbar, sie nach dem erwähnten Dorfe zu begleiten, um dort zu hören, ob ihrem Geliebten etwas zugestoßen sei. Als sie aber dort ankamen, hörten sie, derselbe sei zwar dagewesen, aber schon seit Mitternacht wieder fortgefahren und konnte also nicht mehr zweifeln, daß ihm ein Unglück begegnet sei. Auf dem Rückwege verfolgten sie nun die Spur, welche der Kärrner mit seinem Wagen hinterlassen hatte, und dieselbe führte sie auch deutlich nach einer morastigen, aber grundlosen Stelle eines den Stollbergern unter dem Namen des Walkteiches bekannten Weihers, wo sie auf einmal aufhörte. Jetzt konnte die Arme nicht mehr an dem Schicksale ihres Bräutigams zweifeln, sie kehrte verzweifelnd in das Städtchen zurück und sprach im halben Wahnsinn zu ihrer alten Mutter, in drei Monaten werde sie ihr Anton zur Trauung abholen, bis dahin müsse sie sich ihr Hochzeitskleid spinnen. So spann sie denn emsig bis zum Osterfeste und als die Mitternacht des Vorabends desselben gekommen war, da dünkte es ihr, es poche Jemand dreimal an’s Fenster. Sie öffnete es und es schien ihr ihr Bräutigam draußen zu stehen, zwar mit todtenbleichem, aber himmlisch freundlichem Gesichte; er lud einen Myrthenkranz und Cypressenranken von seinem Wagen ab und verschwand. Kaum hatte sie das Gesicht ihrer bekümmerten Mutter erzählt, als sie auch schwer erkrankte, und es waren nicht 24 Stunden verronnen, da war das Mädchen entschlafen. Seit dieser Zeit sagte man aber, daß sich der Geist des Kärrners mit seinem Wagen und Hunde in den Gassen von Stollberg allnächtlich sehen lasse, und wo er vor einem Hause anhält und Kränze abladet, da wird eins aus demselben drei Tage

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Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_I_514.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)