Seite:Graesse Sagenschatz Sachsens I A 004.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

er fast der einzige Geschichtschreiber der drei letzten Jahrhunderte ist, der seine Quellen nicht blos in trockenen Urkunden und Jahrbüchern, sondern auch in den mündlichen Ueberlieferungen der Nation suchte, während ein späteres Geschlecht dieselben vornehm verachtete und dadurch die Geschichtschreibung ihrer romantischen Arabesken beraubte. Denn diesen Namen verdienen unsere Sagen, da in ihnen ein ganzer Schatz frischer Volkspoesie verborgen liegt, und seitdem die moderne Aufklärung, das nüchterne Princip der Negation, dem Volke seine Wunder- und Märchenwelt geraubt hat, seitdem mit den alten Volksbüchern auch der alte Aberglaube vertrieben wurde, ist die alte Gemüthlichkeit, Treue und Glaube im Volke um Vieles seltner geworden. Der modernen Bildungsperiode aber, die über Alles Auskunft zu geben sich vermißt, die das Gräschen wachsen hört, die das gemüthvolle Leben deutscher Vorzeit verhöhnt, ist gleichwohl Eins nicht möglich, sie kann keine echten Volkssagen erfinden, denn es mangelt ihr die wahre Poesie. Doch das deutsche Volk hat sich nicht so leicht seine Sagen nehmen lassen, es hängt so fest an ihnen wie an der Scholle, worauf es geboren ist, und darum haben sich auch noch so zahlreiche Reste alter Gebräuche, Sitten und romantischer Traditionen erhalten, daß wir fast von den meisten deutschen Ländern mehr oder weniger vollständige Sagensammlungen vor uns haben. Es kann hier nicht der Ort sein, ein vollständiges Verzeichniß dieser in neuerer Zeit täglich zusehends anwachsenden Literatur zu geben, ich beschränke mich nur darauf, zu bemerken, daß außer den Gebrüdern Grimm neuerdings Bechstein die bedeutendsten Sagen unseres gemeinsamen Vaterlandes zusammenzustellen suchte, während speciell den Sagenschatz von Thüringen und Franken der letztgenannte Gelehrte, den rheinischen Simrock, den elsässischen Stöber, den niederländischen und niederdeutschen Wolf, Schwartz und die Gebrüder Colshorn, den schleswig-holsteinschen Müllenhoff, den preußischen Tettau und Temme, den märkischen Temme und Kuhn, den schwäbischen Schwab und Meyer, den badischen Schnetzler und Baader, den baierschen Panzer und Schöppner, den des Harzes Pröhle etc. mit großem Fleiße zusammen trugen und so die Strebepfeiler des einstigen Rundbaues deutscher Sagenvergleichung aufführten. Freilich fehlt zur Vollendung desselben noch mancher Stein, weil, abgesehen davon, daß einige neuerlich angelegte Sammlungen, wie z. B. die über Luxemburger, Mecklenburger, Anhaltiner etc. Sagen durch Beimischung

Empfohlene Zitierweise:
Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite IV. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Graesse_Sagenschatz_Sachsens_I_A_004.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)