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Vom bleichen Schnee ewiger Gletscher, welcher selbst der Julisonne trotzt, löst sich ab Tropfen um Tropfen. Sie fallen von Felsenstufe zu Felsenstufe; sie durchwandern, wie kleine Silberfäden, die grünen Moospolster; sie nehmen aus tausend Armen liebend ihre Zuflüsse auf. – Immer rascher, immer hurtiger wird ihr Schritt, immer vernehmlicher ihr Rieseln und ihr Rauschen. – Was sich anfangs verlangend suchte, friedlich mit einander ging, das drängt sich, treibt sich, peitscht sich nun leidenschaftlich vorwärts. – In Massen zusammengeknäult, bald breit sich auslegend, bald mit schäumender Wut sich pressend durch eine Felsenspalte, stürzt es vorwärts, wie von Furien des Wahnsinns getrieben, bis es, angelangt am jähen Rande der Felsenstirn, mit dem Gebrüll von tausend Donnern hinabstürzt in die Tiefe!! – –

Der Wanderer unten im Thale, zu dessen Füßen die stürzenden Wasser perlend wieder aufspritzen, steht und hebt seine Hände auf mit dem Gefühl heiliger Scheu zu diesen Wundern, welche immer neu herniedersteigen aus den rastlos spendenden Händen Gottes.

In jene unbelauschte Werkstatt ausströmender, alles befruchtender Wasser; in jene ernste, geheimnisvolle Welt der Berge stiegen jetzt auf, Schulter an Schulter, die beiden wunden Männer, Hallmund und Gretter! –

Ihr Pfad wurde öder und öder, die Luft frischer und frischer, und der Rundblick über das Felsenmeer unermeßlich groß und weit! –

„Hier, wo im Winter die Stürme mit den dichten Schneeflocken taugen, hier ist mein Reich,“ sagte der Reifriese, „und dort mein Haus,“ indem er auf den Eingang einer Höhle zeigte.

Sie traten ein.

Der Raum war groß und hoch. Oben durch eine Lichtöffnung brach der volle Strahl der Sonne. Säulen aus natürlich gewachsenem Gestein trugen aufstrebend die Wölbung. Die Wände waren von Moos überpolstert. Keulen, mit Wurfgeschossen gekreuzt, hingen zum Schmuck an den Wänden, dazwischen breite Schilde mit Schwertern. Auf dem Estrich stand ein schwerer Eichentisch, an seinen schmalen Enden wuchtige Sessel mit Armlehnen, an den Langseiten Bänke. Auf dem Tisch sah man Trinkhörner mit schwerem Silberbeschlag und eingefügten, ungeschliffenen Bergkrystallen, in kunstvoller Arbeit.

In der Mitte des weiten, stattlichen Raumes, auf einem Heerd, brannte ein Feuer. Daneben saß ein jugendliches Weib, dem Kopf in die

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Emil Dagobert Schoenfeld: Gretter der Starke. Schuster & Loeffler, Berlin 1896, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Gretter_der_Starke.pdf/170&oldid=- (Version vom 1.8.2018)