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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache

Eine ähnlich zentrale Stellung wie Vergil auf dem Gebiete des poetischen nimmt Cicero auf dem Gebiete Prosa der klassischen Zeit.des prosaischen Stiles ein – nur ähnlich freilich, denn wir wüßten keinen namhaften Dichter nach Vergil, der ihm gegenüber sich seine völlige Unabhängigkeit gewahrt hätte, aber wir kennen ganze Schriftstellerklassen in der Prosa, die sich mehr oder weniger bewußt von Cicero abkehren. Cicero.Cicero (geboren 106 v. Chr.) sehen wir in seinen frühesten Reden mit allen Mitteln des Asianismus arbeiten, mit der geschwollenen Periode, in der manchmal mehr auf den Klang als auf den Sinn gesehen wird und die Worte bisweilen nur äußerer Abrundung dienen, mit gehäuften Figuren und vor allem durchaus mit dem Satzrhythmus. Der für ihn sehr segensreiche Unterricht in der rhodischen Rednerschule (79–77 v. Chr.) hat ihn gelehrt, sich hierin zu mäßigen. Nur der Rhythmus spielt auf der Höhe seiner Tätigkeit keine geringere Rolle als in den Anfängen und ist dadurch außer für wenige selbständige Geister zu einem selbstverständlichen Postulat guten lateinischen Stiles geworden, das von Seneca ebenso honoriert wird wie von Augustin, von dem Arzte Celsus so gut wie von dem Naturhistoriker Plinius, ja das ganze Mittelalter hindurch von den kaiserlichen Kanzleien so gut wie von den päpstlichen. Hiervon abgesehen ist Ciceros Bestreben, das Überschwengliche, Übertriebene des Asianismus auf die Schönheitslinie zurückzudrücken, ebenso deutlich wie erfolgreich. Die Periode wird schön gerundet ohne Überfülle, und für ihre kunstvolle und klare Gliederung wird mit all den Mitteln gesorgt, die, wie früher gesagt, die lateinische Sprache ererbt oder aus Eigenem neu gewonnen hatte. Der griechische Asianismus gefiel sich in kühnen Neubildungen: auch das tritt bei dem Römer ganz zurück, dem freilich, wie wir früher schon sahen, mit der Leichtigkeit der Wortzusammensetzung vielleicht das wichtigste Mittel zu lexikalischen Neuerungen verloren war; ja Cicero siebt auch den Wortschatz der älteren Literatur energisch durch und gibt Wörtern und Wendungen der Umgangssprache außer in den Briefen nicht leicht Einlaß, und selbst die Briefe sondern sich doch von der Umgangssprache wieder durch ihre so gut wie durchgängige Rhythmisierung.

Andere Stilgattungen.Es ist unmöglich, abweichende Strömungen, an denen es natürlich in Ciceros Zeit nicht gefehlt hat, hier nun ebenfalls in Einzelheiten zu schildern. Den ausgesprochensten Gegensatz zu seiner Art bilden diejenigen, die als griechische Muster sich nicht die Asianer erkoren haben, sondern etwa einen Mann wie Lysias, und darum sich wohl Attiker nennen. Sie suchen die Eleganz nicht wie Cicero in der Fülle, sondern gerade in der Schlichtheit rein sachlichen Ausdrucks, die nun freilich – namentlich an Cicero gemessen – etwas nüchtern wirkt. Ein merkwürdiges Denkmal dieses Gegensatzes ist uns noch in einem Stück des Briefwechsels zwischen Brutus und Cicero erhalten: schon daß der eine hier durchaus rhythmisch, der andere durchaus unrhythmisch schreibt, kennzeichnet das Verhältnis dieser stilistischen Antipoden. Der größte, den man als Vertreter

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Krumbacher, Jacob Wackernagel, Friedrich Leo, Eduard Norden, Franz Skutsch: Die Griechische und Lateinische Literatur und Sprache. B. G. Teubner, Leipzig 1913, Seite 543. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Griechische_und_Lateinische_Literatur_und_Sprache.djvu/555&oldid=- (Version vom 1.8.2018)