Seite:Grimm Linas Maerchenbuch II 092.jpg

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zuweilen einen einzelnen Huftritt derselben. Und er wollte eben wieder hereinsehen, da schwebte der Klang abermals zu ihm herüber. Doch er konnte nicht unterscheiden, kam er als schönster Gesang aus einer Menschenbrust, oder kam er von den reinsten bebenden Saiten. Das gewahrte er aber wohl, daß die Töne von dem einsamen Thurm bei der Kapelle herüber schwebten. Da fiel ihm zugleich ein, wie er schon oft gefragt, warum die Thüre an dem Thurme vermauert und noch mit Schutt und Steinen verschüttet wäre, wie ihm aber Niemand noch bestimmte Antwort darauf gab, und wie ihn selbst sein Vater schon in früher Kindheit mit dieser neugierigen Frage einmal von ihm gewiesen habe mit scheltenden Worten über seinen Vorwitz, daß er sich seitdem nie mehr getraut, nach der Ursache zu fragen, warum der schöne, hohe Thurm gar nicht benutzt würde, da man doch von ihm allein vielleicht über die Waldgipfel hinüberschauen könnte. Zugleich erinnerte er sich auch, wie er oft gesehen, daß die Knappen und Knechte sich jedesmal sehr furchtsam gebährdeten, und eilig wieder zurückliefen, wenn sie ein Geschäft im Hofe noch spät am Abend in die Nähe des Thurmes oder der nahen Kapelle rief. Und ihm fiel ein, wie ihm die Hirtenknaben erzählt, daß sie oft, wenn sie im hohen Sommer mit ihrem Vieh die ganze Nacht im Walde gewesen, von dem Thurme herüber ein gar süßes Tönen

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Albert Ludwig Grimm: Lina’s Mährchenbuch, Band 2. Julius Moritz Gebhardt, Grimma [1837], Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimm_Linas_Maerchenbuch_II_092.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)