Seite:Grimm Linas Maerchenbuch II 095.jpg

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Säußelt, Fliederbäume!
Steigt im Grab das empor
Mütterlein, haucht ins Ohr
Ihm gar seltne Träume.

Der Sang ging darauf noch weiter fort. Aber da fielen Adelberten die Augen im Schlummer zu. Und ein seltsamer Traum bewegte sich in seiner Seele vorüber. In diesem Traume sah er den moosigen Grabhügel sich aufthun, und aus dem Schooße des Rasens, der sich gleich einem Hügel von leichten Laubblättern von einander that, hob sich ein wunderschönes Frauenbild herauf, in einem Kleide, das war weiß, wie die Hollunderblümlein; aber um ihre Schulter wallten ihr die blonden Haare in reichen Flechten, und ihre Augen lachten so mildblau, als die kleinen Vergißmeinnichtblümlein, so Adelbert oft mit den Hirtenknaben unten am Quellenrande zu pflücken gepflegt. Und Adelbert glaubte in seinem Traume, sie sei ein Engel. Ueber die Stirne hing ihr aber ein voller Strauß von rothen Blutnelken herein, der ihr in die Haare des Scheitels verflochten war.

Als sie aber halb aus dem Grabe sich empor gehoben hatte, da schwiegen die Töne, und durch die Luft kam ferne herüber ein wunderlich Sausen, als wie von dem Flügelschlage der großen Nachteulen, wenn sie im Dämmerlichte auf Raub ausziehen. Und als Adelbert aufsah, da gewahrte er hochschwebend über die äußerste Mauer des Burgwalls

Empfohlene Zitierweise:
Albert Ludwig Grimm: Lina’s Mährchenbuch, Band 2. Julius Moritz Gebhardt, Grimma [1837], Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimm_Linas_Maerchenbuch_II_095.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)