Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 056.jpg

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Tataren und heutigen Indiern begegnet, findet sich in den älteren indischen Erzählungen nicht. Ob sie durch bloße Umkehrung der Geschichte des treuen Vīravara, der seinen Sohn und dann sich für den König opfert, entstanden sei, wie Benfey und v. d. Leyen meinen, erscheint zweifelhaft. Näher liegt es, an eine Einwirkung der seit dem 11. Jahrhundert in Europa verbreiteten Sage von den treuen Freunden Amicus und Amelius zu denken, die in Konrads Engelhart und Engeltrut, in Alexander und Ludwig (im Anhange der Sept sages), in Olivier de Castille und Artus und in der Legende von den beiden Jakobsbrüdern widerklingt.[1] Hier übernimmt der eine Freund den gefährlichen Zweikampf für den andern und begeht scheinbares Unrecht an ihm, dagegen gibt dieser seine Kinder hin, um jenen vom Aussatze zu heilen,[2] doch durch ein Wunder werden auch sie im Leben erhalten. Wenn aber die Opferung der Kinder erst im Abendlande in das indische Märchen hineingebracht worden ist, so haben wir nach Reinhold Köhlers treffendem Ausdruck[3] einen der Fälle vor uns, in denen unsre Volksmärchen keineswegs als Entstellung und Verschlechterung, sondern als Erweiterung und Vertiefung der indischen Grundlage erscheinen; denn während diese nur einseitig die opferbereite Treue des Dieners schildert, ist durch die Tötung des Kindes das Märchen gleich der Dichtung von Amicus und Amelius zu einer Verherrlichung gegenseitiger höchster Freundestreue und Aufopferung geworden.

Statt des lauschenden Freundes, der die dem Helden angedrohten Gefahren vernimmt und glücklich abwendet, ist in einem griechischen Märchen bei B. Schmidt 1877 S. 68 nr. 3 die gute Schwester eingetreten. Sie hat beherzigt, was die drei Schicksalsgöttinnen


  1. Vgl. Hartmanns armen Heinrich hsg. von den Brüdern Grimm 1815 S. 187 f. W. Grimm, Athis und Prophilias (Kl. Schriften 3, 265 f. 346). Müllenhoff-Scherer, Denkmäler² S. 342. Schwieger, Die Sage von Amis und Amiles, Progr. Berlin 1885. Chauvin, Bibl. arabe 8, 194. Zu den beiden Jakobsbrüdern s. R. Köhler, Kl. Schr. 2, 163. Kisteners Jakobsbrüder hsg. von Euling 1899 S. 41. Ulrich, Roman. Forschungen 19, 595. – Auch in einem Negermärchen bei Kölle p. 122 opfern die Freunde einander das Liebste, Weib und Kind (s. W. Grimm, Kl. Schriften 3, 362).
  2. Über den Glauben, Aussatz durch Kinderblut zu hellen, vgl. P. Cassel, Die Symbolik des Blutes 1882. H. Strack, Der Blutaberglaube 1891.
  3. In seiner lehrreichen Abhandlung über unser Märchen (Aufsätze über Märchen und Volkslieder 1894 S. 24–35).
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_056.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)