Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 081.jpg

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Jungfrauen mußten es bedienen, doch war es selber schöner als alle andern; das Rehkälbchen ließ es niemals von sich und tat ihm alles Gute an. Bald darauf starb die Königin, da ward das Schwesterchen mit dem König vermählt und lebte in allen Freuden.

Die Stiefmutter aber hatte von dem Glück gehört, das dem armen Schwesterchen begegnet; sie dachte, es wäre längst im Wald von den wilden Tieren gefressen worden; aber die hatten ihm nichts getan, und nun war es Königin im Reich. Die Hexe war so böse darüber, daß sie nur darauf dachte,[1] wie sie ihr das Glück verderben könnte. Als im folgenden Jahr die Königin einen schönen Prinzen zur Welt gebracht hatte und der König auf der Jagd war, trat sie in der Gestalt der Kammerfrau in die Stube, worin die Kranke lag. ‘Das Bad ist für Euch bereitet’, sagte sie, ‘das wird Euch wohltun und stärken. Kommt, eh es kalt wird!’ Sie führte sie darauf in die Badestube; wie die Königin hineingetreten war, schloß sie die Türe hinter ihr zu; drin aber war ein Höllenfeuer angemacht, da mußte die schöne Königin ersticken. Die Hexe hatte eine rechte Tochter, der gab sie ganz die äußerliche Gestalt der Königin und legte sie an ihrer Stelle in das Bett. Der König kam am Abend heim und wußte nicht, daß er eine falsche Frau habe. Aber in der Nacht, sah die Kinderfrau, trat die rechte Königin in die Stube; sie ging zur Wiege, nahm ihr Kind heraus, hob es an ihre Brust und gab ihm zu trinken; dann schüttelte sie ihm sein Bettchen auf, legte es wieder hinein und deckte es zu. Darauf ging sie in die Ecke, wo das Rehkälbchen schlief, und streichelte ihm über den Rücken. So kam sie alle Nacht und ging wieder fort, ohne ein Wort zu sprechen.

Einmal aber trat sie wieder ein und sprach:

‘Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr’.

und tat alles wie in den andern Nächten. Die Kinderfrau weckte aber den König und sagte es ihm heimlich. Der König wachte die andere Nacht, und da sah er auch, wie die Königin kam, und hörte deutlich ihre Worte:

‘Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch einmal und dann nimmermehr’.

Aber er getraute sich nicht sie anzureden. In der andern Nacht wacht’ er wieder, da sprach die Königin:

‘Was macht mein Kind? Was macht mein Reh?
Nun komm ich noch diesmal her und dann nimmermehr’.


  1. Hsl. abgeändert: daß sie nichts anders im Sinn hatte als.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_081.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)