Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 226.jpg

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man, wie ein von der Stiefmutter mißhandeltes Mädchen zu einer Menschenfresserin flüchtet und, um von ihr verschont zu werden, an ihrer Brust saugt.[1] Für seine umsichtige Bedienung wird es reich belohnt entlassen; die Stiefschwester aber erhält eine Eselshaut zur Kleidung, Glöckchen in die Ohren und wird in den Hühnerstall gesperrt. – Endlich ist unser Märchen auch nach Amerika gedrungen. Eine Aufzeichnung von Ph. Audebrand aus den Antillen ‘La cruche de nacre’ im Journal des enfants 1856, 1, 242, eine creolische aus Cayenne ‘Les trois oeufs’ in der Mélusine 1, 43, ein Negermärchen aus Jamaika im Folk-lore Journal 1, 281 (1883. Mädchen zerbricht den Wasserkrug, fortgeschickt, erhält von einer Frau drei Eier, aus denen ein neuer Krug, eine Kutsche und ein Pflanzerhof hervorkommen). Aus Louisiana bei Fortier S. 117 ‘The talking eggs’ = Journal of american folk-lore 1, 144. – Aus Peru bei Duine S. 33 ‘La méchante soeur.’

Das Märchen handelt also von einer guten und einer bösen Schwester; jene, die daheim wie Aschenputtel (nr. 21) von ihrer Stiefmutter mißhandelt und aus dem Hause gestoßen wird, erhält von einem überirdischen Wesen, einem alten Weibe oder Manne, reichen Lohn für ihre Dienstfertigkeit, die neidische Schwester aber, die sich dann ebenfalls auf den Weg macht, entehrende Strafe. Der Brunnen oder das Erdloch (Lütolf, Basile), in das der Spinnrocken, der Krug und das Mädchen fällt[2], bildet den Eingang zu einem unterirdischen Reiche der Fee, die in der hessischen Fassung den mythologischen Namen ‘Frau Holle[3] führt


  1. Vgl. zu diesem Ritus der Adoption Cosquin, Revue des questions historiques 83, 353 (1908).
  2. Der Nausikaa fällt der Ball ins Wasser, den Odysseus aufhebt (Od. 6, 116), einem Mädchen der Ring, nach dem der Jüngling taucht (Doncieux, Romancéro de la France 1904 S. 312. Nigra, Canti pop. del Piemonte 1888 S. 351), oder eine Axt dem Holzhauer (Aesop nr. 308 Halm. Kirchhof, Wendunmut 7, 15).
  3. Über Frija-Holda vgl. J. Grimm, Myth. ³ S. 246f. 433. 455. 1042. 1212. 3, 87. 244. 280. Deutsche Sagen nr. 4–8. Mogk in Pauls Grdr. der germ. Philologie¹ 1, 1106. Über Schmieders ‘Frau Holle, ein hessisches Volksmärchen vom Männerberge’ (Kassel 1819) die Kritik W. Grimms, Kl. Schriften 2, 234 Wie man in Hessen sagt, wenn es schneit: ‘Die Frau Holle macht ihr Bett’, so in Holstein: ‘St. Petrus wettert sein Bett aus’ oder: ‘Die Engel pflücken Federn und Dunen’ (Müllenhoff S. 583).
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_226.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)