Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 256.jpg

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Martin 1882. Vgl. Martin, Observations sur le roman de Renart 1887 p. 50 und Sudre, Les sources du roman de Renart 1892 p. 205) unternimmt der Fuchs Renart auf Geheiß eines Einsiedlers eine Romfahrt, gewinnt den Widder Belin, der von seinem Herrn geschlachtet werden sollte, und den Esel Bernart l’archeprestre zu Genossen und kehrt mit ihnen im Hause des Wolfes Primaut (oder Ysengrin) und seiner Frau Hersent ein. In Abwesenheit der Wölfe laben sie sich mit Speise und Trank und stimmen einen lauten Gesang an. Da fordern die heimkehrenden Wölfe Einlaß. Auf den Rat des Fuchses öffnet der Esel, und der Widder rennt Primaut so gewaltig an, daß er ihn tötet. Frau Hersent aber holt andre Wölfe herbei, welche die auf einen Baum gekletterten Pilger umringen. Bernart und Belin vermögen sich nicht zu halten, stürzen herab und erschlagen sechs Wölfe; die andern entlaufen. – Ob der auf französischer Vorlage fußende deutsche Reinhart Fuchs Heinrichs des Glichezares (ed. Reißenberger 1886 v. 551–562) gleichfalls diese Episode enthielt, ist bei der Lückenhaftigkeit der Überlieferung streitig (Voretzsch, Zs. f. roman. Philol. 15, 177f. und Sudre p. 209 gegen Martin, Observations p. 52).

Offenbar hat der geistliche Verfasser des Ysengrimus, der uns die frühste Fassung unsrer Erzählung bietet, eine ihm mündlich überlieferte Tierfabel[1] seinem Zwecke gemäß umgeformt; er stellt den Fuchs als Gegenspieler des Wolfes in den Vordergrund und nennt ihn geradezu Dictator (Sudre p. 211), er macht in eigentümlicher Weise die Ricke zur Anführerin der Tiere, vielleicht durch das Sprichwort ‘Prius iungentur capreae lupis’ bewogen (E. Voigt S. LXXX), und er bezeichnet die Flucht der Tiere vor der drohenden Schlachtung als eine Pilgerfahrt. Zieht man diese Neuerungen


  1. Voigt (Ysengrimus S. LXXX) verweist dazu auf die äsopische Fabel Ὄνος, ἀλεκτρυὼν καὶ λέων Halm nr. 323–323b, die auch in einer 1326 zu Bologna geschriebenen lateinischen Fabelsammlung (Voigt, Kleinere lat. Denkmäler der Tiersage 1878 S. 137 und Hervieux, Les fabulistes latins 4, 411 ’De leone et asino‘) wiederkehrt: der Löwe bricht nachts in ein Haus ein, in dem sich ein Esel und ein Hahn befinden, wird aber durch das Krähen des Hahnes verscheucht; als ihn jedoch der Esel mit Geschrei verfolgt, zerreißt der Löwe diesen. Ich sehe hier keine Wanderschaft der Tiere und keine Überwindung des stärkeren Tieres wie im Ysengrimus, sondern eine Verkoppelung zweier andrer Motive: des bekannten Widerwillens des Löwen gegen den Hahnenschrei und der ebenso bekannten Torheit des Esels.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_256.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)