Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 379.jpg

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und in die Sonnennähe trage, die sie vernichte. Der Königssohn gewann nun als Arzt großen Ruhm, bestieg nach seines Vaters Tode den Thron und ward hundert Jahre alt. Da kam eines Tages eine Ohnmacht über ihn, und als er erwachte, sah er seinen alten Meister zu seinen Häupten sitzen. Wie er vernahm, daß sein Ende nahe sei, bat er den Tod um Frist, bis er ein Vaterunser gebetet habe, sprach aber nur die ersten vier Bitten und erklärte dann, er wolle das Gebet erst enden, wenn er lebenssatt sei. Der überlistete Tod mußte ihn verlassen, und der König lebte weitere hundert Jahre, bis ihm das Leben eine Last däuchte. Da berief er seine Großen, um sie zu vermahnen, legte sich aufs Bett, rief seinen Meister herbei und sprach das Vaterunser zu Ende, und wie er das Amen gesprochen, schied er aus dem Leben.

In Deutschland erzählt um 1300 Hugo von Trimberg im Renner (v. 23711–23769 ed. Ehrismann = Druck v. J. 1549 Bl. 118a) als Einleitung zu einem andern Märchen (unsrer nr. 177), wie ein Mann einen Fremden, der bei ihm übernachtet, zum Gevatter seines neugeborenen Kindes gewinnt. Nach der Taufe hört er, daß der Fremde der Tod sei, bittet ihn um ein langes Leben und erhält auch die Zusage, er werde ihm mehrere Boten senden, bevor er ihn hole. Auch in der um 1570 verfaßten ‘Historia von Sancto’ (Zs. f. dtsch. Philologie 32, 349) begegnet dieselbe Einleitung, aber verbunden mit dem Schneider im Himmel (nr. 35), Hans Pfriem (nr. 178) und dem Spielhansel (nr. 82).

Mit der Überlistung des Todes durch den Arzt vereinigt erscheint diese Einleitung zuerst 1547 bei Hans Sachs in einem Spruchgedicht und einem Meisterliede ‘Der Bauer mit dem Tod’ (Fabeln und Schwänke ed. Goetze 1, 290 nr. 99 und 4, 315 nr. 448). Als der Bauer für sein Kind einen Gevatter sucht, begegnet ihm der Herrgott und der Tod; jenen will er nicht haben, weil er Geld und Gut so ungleich verteile; der Tod aber ist ihm recht, weil der ihn zum Arzt zu machen verspricht. Nachdem die Taufe gefeiert ist, belehrt der Tod seinen Gevatter, wenn er ihn bei des Kranken Haupt erblicke, so müsse dieser sterben, stehe er aber zu seinen Füßen, so möge er genesen. Nach zehn Jahren, in denen der Bauer viel Geld mit seinen Kuren verdient hat, fordert der Tod ihn selber auf mit ihm von dannen zu gehen, verstattet ihm indes, noch ein Vaterunser zu beten. Als der schlaue Bauer sich weigert das Gebet zu Ende zu sprechen, wirft sich endlich der Tod in Gestalt eines

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 379. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_379.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)