Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 396.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

de linguistique de Paris 1, 384) bemerkt dieser, daß Deutsche, Wallonen und Čechen auch den kleinsten Stern im Sternbilde des Wagens als Reuterlein, oder Dümeken, Poucet, Palečky bezeichnen,[1] und folgert daraus, daß unserm Märchen ein Astralmythus zugrunde liegt. Natürlicher aber erscheint, daß in beiden Fällen Däumling selbständig als verbreitete Bezeichnung eines ungewöhnlich kleinen Menschen[2] verwendet ward, oder daß, falls wirklich ein Zusammenhang anzunehmen wäre, das bekannte Däumlingsmärchen den Anlaß zur Benennung des Sternbildes hergab.

Ähnliche Däumlingssagen hatten die Griechen[3]. Von Philetas, einem Dichter aus Kos, wurde erzählt, er habe Blei in den Sohlen getragen, um nicht vom Winde weggeweht zu werden; von dem Seher Archestratos, als er von den Feinden gefangen und auf eine Wage gelegt worden, habe er nur soviel als ein Obolos gewogen (Athenäus 12, 77 p. 551, wo noch mehr derart. Aelian, Var. hist. 9, 14). Auch die griechische Anthologie (2, 330: Lukillios nr. 65. Jacobs, Tempe 2, 7) liefert einen Beitrag:

Plötzlich erhoben vom leisesten Hauch des lispelnden Westwinds
     Stieg jüngst, leichter als Spreu, Markos zum Aether hinauf.
Und er hätte die Luft mit rauschender Eile durchsegelt,
     Hätte der Spinne Geweb nicht ihm die Füsse verstrickt.
Als er nun hier fünf Tage und Nächte gehangen, ergriff er
     Einen der Fäden und stieg langsam zur Erde hinab.

Ein Dichter der lateinischen Anthologie (1, 151 nr. 209 ed. Riese) verspottet einen königlichen Diener Abcar:

Piperis exigui formam vix corpore conples,
Pulicis e corio vestit te gunna profusa,
Ad maratros dabitur grandis formica caballus.


  1. J. Grimm, Myth. ³ S. 688 (doch ist das hier angeführte čechische Zeugnis hinfällig, weil in Jungmanns Wörterbuch 3, 14 s. v. palečky nur von den Däumlingen am gewöhnlichen Wagen die Rede ist, nicht vom Sternbilde). Müllenhoff S. 360. Kuhn-Schwartz S. 457. Kuhn, Westfäl. Sagen 2, 87. In einem altniederländischen Rätsel (Grimm, Myth. 3, 212) ist dagegen das Sternbild ein Wagen, der ohne Pferd allein nach Brüssel geht.
  2. J. Grimm, Myth. ³ S. 418–420. Kl. Schriften 2, 433. Frommann, D. Mundarten 4, 347.
  3. Schenkl, Germania 8, 384 weist besonders auf den 3. homerischen Hymnus hin, in dem Hermes als Knabe Apollos Rinder stiehlt und sich seinem Griffe listig zu entziehen weiß.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_396.jpg&oldid=- (Version vom 11.11.2022)