Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 405.jpg

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ein König stieg aus und bat den Mann, er möchte ihm seine Tochter zur Gemahlin geben. Der Mann war froh, daß seiner Tochter ein solches Glück widerfuhr, und sagte gleich ja; es war auch an dem Freier gar nichts auszusetzen, als daß er einen ganz blauen Bart hatte, so daß man einen kleinen Schrecken kriegte, so oft man ihn ansah. Das Mädchen erschrak auch anfangs davor und scheute sich, ihn zu heiraten, aber auf Zureden ihres Vaters willigte es endlich ein. Doch weil es so eine Angst fühlte, ging es erst zu seinen drei Brüdern, nahm sie allein und sagte: ‘Liebe Brüder, wenn ihr mich schreien hört, wo ihr auch seid, so laßt alles stehen und liegen und kommt mir zu Hilfe!’ Das versprachen ihm die Brüder und küßten es: ‘Leb wohl, liebe Schwester! Wenn wir deine Stimme hören, springen wir auf unsere Pferde und sind bald bei dir.’ Darauf setzte es sich in den Wagen zu dem Blaubart und fuhr mit ihm fort. – Wie es in sein Schloß kam, war alles prächtig, und was die Königin nur wünschte, das geschah; und sie wären recht glücklich gewesen, wenn sie sich nur an den blauen Bart des Königs hätte gewöhnen können; aber immer, wenn sie den sah, erschrak sie innerlich davor. Nachdem das einige Zeit gewährt, sprach er: ‘Ich muß eine große Reise machen. Da hast du die Schlüssel zu dem ganzen Schloß; du kannst überall aufschließen und alles besehen, nur die Kammer, wozu dieser kleine goldene Schlüssel gehört, verbiet ich dir; schließt du die auf, so ist dein Leben verfallen.’ Sie nahm die Schlüssel, versprach ihm zu gehorchen, und als er fort war, schloß sie nacheinander die Türen auf und sah soviel Reichtümer und Herrlichkeiten, daß sie meinte, aus der ganzen Welt wären sie hier zusammengebracht. Es war nun nichts mehr übrig als die verbotene Kammer; der Schlüssel war von Gold, da gedachte sie: In dieser ist vielleicht das Allerkostbarste verschlossen. Die Neugierde fing an sie zu plagen, und sie hätte lieber all das andere nicht gesehen, wenn sie nur gewußt, was in dieser wäre. Eine Zeit lang widerstand sie der Begierde, zuletzt aber ward diese so mächtig, daß sie den Schlüssel nahm und zu der Kammer hinging. ‘Wer wird es sehen, daß ich sie öffne?’ sagte sie, ‘ich will auch nur einen Blick hineintun.’ Da schloß sie auf, und wie die Türe aufging, schwamm ihr ein Strom Blut entgegen, und an den Wänden herum sah sie tote Weiber hängen, und von einigen waren nur die Gerippe noch übrig. Sie erschrak so heftig, daß sie die Türe gleich wieder zuschlug; aber der Schlüssel sprang dabei heraus und fiel in das Blut. Geschwind hob sie ihn auf und wollte das Blut abwischen, aber es war umsonst; wenn sie es auf der einen Seite abgewischt, kam es auf der andern wieder zum Vorschein. Sie setzte sich den ganzen Tag hin und rieb daran und versuchte alles Mögliche, aber es half nichts, die Blutflecken waren nicht herabzubringen. Endlich am Abend legte sie ihn ins Heu, das sollte in der Nacht das Blut ausziehen. – Am andern Tag kam der Blaubart zurück,

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 405. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_405.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)