Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 409.jpg

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jeder etwas erzählen. Da die Reihe an die Mamsell kam, erzählte sie die bewußte Historie, wobei dem sogenannten Herrn Graf so ängstlich ums Herz ward, daß er mit Gewalt weg wollte; aber der gute Herr von dem adelichen Haus hatte inzwischen gesorgt, daß das Gericht unsern schönen Herrn Grafen in Gefängnis nahm, sein Kastell ausrottete und seine Güter alle der Mamsell zu eigen gab, die nach der Hand mit dem Sohn des Hauses, wo sie so gut empfangen war, sich verheiratete und lange Jahre lebte.

In dem Helden von Perraults Märchen hat man eine historische Persönlichkeit, den 1440 hingerichteten bretonischen Edelmann Gilles de Laval Marschall von Retz, gesucht,[1] schwerlich mit Recht. Der Name Barbe-bleue bedeutete im 16. Jahrhundert einen Mann mit bläulich schimmerndem schwarzen Bart, und ein solcher galt als ein Mädchenverführer.[2] Perrault aber sah darin etwas Abnormes und Unheimliches, wie auch andre Fassungen dafür einen Rotbart oder Grünbart einsetzen. Vermutlich hängt das Märchen näher zusammen mit der in ganz Europa verbreiteten Ballade von dem Lustmörder, der von einer in den Wald geführten Jungfrau oder von deren Bruder erstochen wird: den deutschen von Ulinger, Adelger oder Ulrich (Erk-Böhme, Liederhort 1, 118 nr. 41–42. Reifferscheid, Westfäl. Volkslieder S. 161), niederländisch von Halewijn (van Duyse, Het oude nederl. Lied 1, 1 nr. 1), dänisch von Ulver oder Oldemor (Grundtvig, DgFv. 4, 1 nr. 183), schwedisch von Rymer (Geijer-Afzelius, Sv. folkvisor ² nr. 66), norwegisch von Svein Norðmann oder Rullemann (Landstad, Norske folkeviser nr. 69–70), englisch vom Elfenritter (Child, English pop. ballads nr. 4), französisch von Renaud (Doncieux, Romancéro pop. fr. p. 351 = Mélusine 9, 265), italienisch vom Grafensohn (Nigra, Canti pop. del Piemonte nr. 13),


  1. Bossard, Gilles de Rais 1885. Lemire, La Barbe-bleue de la legende et de l’histoire 1886. Sébillot, Folk-lore de France 4, 354. Volkskunde 17, 75.
  2. K. Hofmann, Romanische Forschungen 1, 434. Nach den Brüdern Grimm ist Blaubart der Volksname eines Starkbärtigen, wie in Hamburg (Schütze, Holstein. Idiotikon 1, 112) und in Kassel, wo 1812 ein verwachsener, halbtoller Handwerksbursch, Kranz geheißen, unter diesem Namen bekannt genug war (Briefe der Brüder Grimm an P. Wigand 1910 S. 74). Eigentlich bedeutet es (gleich dem nordischen Blâtand, Schwarzzahn) einen Schwarzbärtigen, vielleicht auch einen Kranken, Aussätzigen, der sich durch das Baden im Blut reiner Jungfrauen heilen wollte (Hartmanns Armer Heinrich ed. Grimm S. 173. Weimarisches Jahrbuch 1, 408).
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_409.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)