Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 429.jpg

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und berichteten ihrem Herrn, da in einem hohlen Baum sitze ein Tier von menschlicher Gestalt, rühre sich nicht und gebe keinen Laut von sich. Der Fürstensohn ging hinzu und befahl, sie herauszunehmen; sie ließ alles geschehen, rührte keine Stimme nicht. Als sie nun anfingen, das Moos von ihr abzunehmen und sie zu reinigen, kam ihr weißes Gesicht zum Vorschein und das Kreuz auf der Stirne, daß der Fürst über ihre große Schönheit erstaunte und sie in allen Sprachen, die er nur wußte, anredete, um zu hören, wer sie wäre und wie sie dahin geraten. Allein auf alles blieb sie stumm als ein Fisch, und der Fürst nahm sie mit sich heim, übergab sie den Kammerfrauen und befahl, sie zu waschen und zu kleiden, welches vollkommen nach seinem Willen geschah. War sie nun vorher schön gewesen, so strahlte sie in den reichen Kleidern wie der helle Tag, nur daß kein Wort aus ihr zu bringen war. Nichtsdestoweniger setzte sie der Fürst über Tisch an seine Seite und wurde von ihrer Miene und Sittsamkeit aufs tiefste bewegt, und nach einigen Tagen begehrte er sie zu heiraten, keine andere auf der Welt. Seine Mutter widersetzte sich dieser Vermählung zwar heftig, indem sie äußerte, man wisse ja doch nicht recht, ob sie Tier oder Mensch sei, sprechen tue sie nichts und begehre nicht es zu lernen, und von einer solchen Ehe stände nichts wie Sünde zu erwarten. Allein keine Einrede half; der König sprach: ‘Wie kann man zweifeln, daß sie ein Mensch ist, die eine engelschöne Gestalt hat und deren edle Abkunft das Kreuz auf ihrer Stirne verrät?’ Mithin wurde das Beilager in Schmuck und Freuden vollzogen.

Als Gemahlin des Fürsten lebte sie sittsam und fleißig in ihrem Kämmerlein, arbeitete an dem Geräte fort, das ihre Brüder aus dem Bann erlösen sollte. Nach einem halben Jahr, als sie gerade schwanger ging, mußte der Fürst in den Krieg ziehen und befahl seiner Mutter, daß sie seine Gemahlin wohl hüten sollte. Aber der Mutter war seine Abwesenheit gerade recht, und als die Stunde der Niederkunft kam und sie einen bildschönen Knaben gebar mit einem güldnen Kreuz auf der Stirne, wie sie selber hatte, gab die Alte das Kind einem Diener mit dem Befehl, es in den Wald zu tragen, zu morden und ihr zum Zeichen die Zunge zu bringen. Dem Fürsten schrieb sie einen Brief, worin stand, seine Gemahlin, die man selbst für ein halbes Tier halten müsse, sei, wie zu erwarten gestanden, eines Hundes genesen, den man habe ersaufen lassen. Worauf der Fürst antwortete, man solle sie dennoch wie seine Gemahlin halten, bis er aus dem Feld heimkehre und dann selber entscheide, was geschehn solle. Der Diener inzwischen war mit dem Knäblein in den Wald gegangen, begegnete ihm eine Löwin, der warf er’s vor, dachte, sie möcht es fressen, so brauch er’s nicht zu töten; die

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_429.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)