Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 433.jpg

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im Walde, ohne sie erreichen zu können. Seine Mutter sendet nun einen Diener aus, die Goldketten zu rauben; das gelingt ihm, da die Knaben als Schwäne sich im Flusse tummeln, während die Schwester neben den abgelegten Ketten am Ufer steht. Das Mädchen erbettelt nun im Schlosse Nahrung für sich und die Schwäne und teilt auch ihrer noch unerkannten gefangenen Mutter davon mit. Endlich entdeckt der Ritter den Frevel und läßt die Halsketten den Schwänen umlegen, sodaß sie ihre menschliche Gestalt wieder gewinnen bis auf einen, dessen Kette der Goldschmied zerbrochen hatte; die unschuldige Gattin wird befreit und die boshafte Schwieger an ihrer Stelle eingekerkert. – Deutlich treten uns in dieser und den verwandten Fassungen[1] der Schwanrittersage die hauptsächlichen Züge des Märchens entgegen: die verzauberten und bis auf einen erlösten Schwanbrüder, ihre hilfreiche Schwester, die unschuldig von der argen Schwieger verklagte Frau; freilich ist die Doppelgestalt der kettentragenden Schwankinder hier in der Feennatur ihrer Mutter mitbegründet, und ihre Erlösung wird nicht ausschließlich durch die Schwester bewirkt. Verblaßt und entstellt erscheint diese alte Form des Märchens in einer jungen irischen Sage ‘The fate of the children of Lir, or the four white swans’ (O’Curry, Atlantis 4, 113. 1863. Joyce, Old celtic romances 1879 p. 1. Lot, Romania 21, 62–67). Aoifé, die zweite Frau des Königs Lir, verwandelt dessen aus der ersten Ehe stammende drei Söhne und eine Tochter, während sie baden, in Singschwäne. Neunhundert Jahre leben sie verzaubert, da sieht sie der h. Mochaomhog und läßt ihnen zwei silberne Ketten machen. Als der König Lairgnen sie mit Gewalt vom Altar wegreißt, werden sie zu Menschen und sinken, nachdem sie die Taufe empfangen, tot zu Boden.

Zu erwähnen ist noch, daß in der Grimmschen Fassung den Schwanhemden, welche die Stiefmutter den Kindern überwirft, die


  1. G. Paris unterscheidet nach dem Namen der Frau die Dichtungen von Elioxe (ed. Todd 1889), Isomberte (Gran conquista de Ultramar ed. Gayangos l. 1, cap. 47–68; vgl. Romania 17, 522) und Beatrix (ed. Hippeau 1874), aus denen die späteren Bearbeitungen in französischer, deutscher, englischer, niederländischer Sprache hervorgegangen seien. Bibliographische Notizen bei Chauvin, Bibl. arabe 8, 206, auch bei F. H. v. d. Hagen, Die Schwanensage (Abh. der Berliner Akademie 1846, 513. S. 567 das Grimmsche Märchen).
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 433. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_433.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)