Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 437.jpg

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Sor de plaser (Romania 13, 266} ist die Veranlassung des Zauberschlafes durch eine Verwünschung und eine Flachsfaser sowie das Heraussaugen der Faser fortgefallen. Die Kaisertochter Sor de plaser sinkt während eines Festes plötzlich beim Essen tot um, wird aber, da sie so schön aussieht, nicht bestattet, sondern in einen einsamen Turm gebracht. Dort dringt der vom Meister Vergil zu Rom unterwiesene Königssohn Frayre de joy aus Florianda ein, tauscht den Ring mit der Schlafenden und legt sich zu ihr; lange sucht er nach einem Heilmittel für sie und gewinnt endlich einen weisen Häher, der zum Turm emporfliegt, durch ein Wunderkraut die Prinzessin erweckt, ihr Herz dem unbekannten Vater ihres Kindes geneigt macht und die fröhliche Botschaft dem Kaiser und dem Prinzen zuträgt.

Von den neueren Aufzeichnungen stehen dem Grimmschen Märchen, wo die Erlösung der verzauberten Jungfrau gleich mit dem ersten Eindringen des Liebhabers erfolgt, nahe ein französisches bei Dardy 2, 33 nr. 9 ‘La belle endormie’, ein kroatisches (Valjavec 1858 p. 56 nr. 18 = Krek, Einleitung in die slavische Literaturgeschichte ² 1887 S. 650), ein kleinrussisches aus Galizien (Zdiarski, Garść baśni S. 16 nr. 10) und ein weißrussisches (Federowski 2, 195 nr. 167); doch fehlt in den beiden ersten der Spindelstich, der im kleinrussischen durch eine Nähnadel ersetzt, in dem sonst ziemlich verblaßten weißrussischen jedoch erhalten ist. Die Heldin des französischen Märchens wird von einer Hexe in den Zauberschlaf versenkt, weil sie die Werbung eines häßlichen Freiers abgewiesen hat; als nach mehr als hundert Jahren ein Ritter durch die Hecke dringt und sie weckt, sind ihre Eltern längst verstorben. Die kroatische Fassung beginnt mit der Ladung der Wilen zum Tauffeste, eine böse Wila überreicht ein Schächtelchen mit einer schlimmen Prophezeiung und erscheint, als das Mädchen herangewachsen ist, um es in Stein zu verwandeln. Auch in der kleinrussischen Version sagt die nicht eingeladene Zauberin das Unheil voraus; der Prinz wird nicht von den Dornen der Hecke in Schlaf versenkt, weil er von einem Bettler zum Dank für seine Mildtätigkeit ein Kreuz erhalten hat. Auch in einem russischen Märchen (Afanasjev bei Spiller S. 25) wird eine schöne Königstochter am Hochzeitstage von einer neidischen Hexe in Stein verwandelt, aber nach vielen Jahren durch den Kuß eines Prinzen entzaubert. Im griechischen bei B. Schmidt S. 16

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_437.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)