Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 445.jpg

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Das Märchen läßt sich bis in die höfische Epik des Mittelalters zurückverfolgen[1]. Um 1300 existierte in Frankreich ein heut verlorenes lateinisches Gedicht, auf dem die isländische vom Bischof Jón Halldórsson († 1339) verfaßte Clarussaga (ed. Cederschiöld, Lund 1879; vgl. Sv. landsmålen 5, 6, 98 ‘Prins Klarus ock prinsessan Serena’ und Mausser in der Zs. Walhalla 7, 3, 1–49. 1912) beruht. Um Serena, die schöne Tochter des Frankenkönigs Alexander, zu gewinnen, zieht Clarus, der Sohn des Sachsenkaisers Tiburtius, aus; er wird geziemend empfangen und von Serena, die mit sechzig Jungfrauen in einem Turme wohnt, zur Tafel geladen, aber wie er mit dem Ei, das jene ihm reicht, sein Gewand befleckt, als Bauerntölpel hinausgewiesen. Beschämt segelt er nach Hause und kehrt unter anderm Namen, begleitet von seinem klugen Lehrmeister Perus, zurück. Die prächtigen drei Zelte, die Perus angefertigt hat, erregen in Serena solches Verlangen, daß sie, als Clarus für jedes eine Nacht in ihrer Kammer fordert, ihm diesen Preis bewilligt. Doch schlummert er zweimal durch das Schlafmittel, das dem Nachttrunke beigemischt ist, sofort ein; erst als Perus von der Dienerin Thekla das Geheimnis des Bechers erfährt, glückt es Clarus in der dritten Nacht wachzubleiben. Nun willigt Serena auch ein, sein Weib zu werden; die Hochzeit wird mit aller Pracht gehalten, und sie fahren miteinander fort über See. Als aber Serena eines Morgens erwacht, ist das herrliche Zelt verschwunden, und statt des Prinzen Eskilvard sieht sie einen häßlichen Kerl, einen Spielmann, neben sich, der sie hart behandelt und sie zwingt, da er sich angeblich ein Bein gebrochen hat, ihn auf ihrem Rücken zu einem Wirtshause zu tragen und an der Kirchentür für sie beide zu betteln. In dieser Erniedrigung erblickt sie den einst verschmähten Prinzen Clarus, der mit stattlichem Gefolge an ihr vorübergeht und ihr einen Backenstreich gibt. Das geschieht zu dreien Malen, dann aber offenbart sich Clarus als ihr Gatte Eskilvard und der Spielmann als Meister Perus, der ihre Gespielin Thekla zur Frau bekommt.

In einer italienischen Novelle des 1556 verstorbenen Luigi Alamanni (Passano, Novellieri italiani in prosa ² 2, 5. Bülow,


  1. Vgl. die Untersuchung von Emil Gigas, Litteratur og historie, studier og essays, 3. samling (Kjøbenhavn 1902) S. 250–322 ‘Et eventyrs vandringer’. *M. Moe, Eventyr paa vandring (Syn og Segn 1. Christiania 1895). Bugge, Studier 1, 136 (1882).
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 445. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_445.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)