Seite:Grimms Märchen Anmerkungen (Bolte Polivka) I 504.jpg

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reif und sollten am andern Tage abgebrochen werden. In der letzten Nacht aber überfiel ihn ein Schlaf, und er schlief ein, und wie er aufwachte, waren alle Früchte fort und nur die Blätter noch übrig. – Da befahl der König dem zweiten Sohn, ein Jahr zu wachen; dem ging es nicht besser als dem ersten. In der letzten Nacht konnte er sich des Schlafes gar nicht erwehren, und am Morgen waren die Birnen alle abgebrochen. – Endlich befahl der König dem Dummling, ein Jahr zu wachen; darüber lachten alle, die an des Königs Hofe waren. Der Dummling aber wachte, und in der letzten Nacht wehrt er sich den Schlaf ab; da sah er, wie eine weiße Taube geflogen kam, eine Birne nach der andern abpickte und forttrug. Und als sie mit der letzten fortflog, stand der Dummling auf und ging ihr nach; die Taube flog aber auf einen hohen Berg und verschwand auf einmal in einem Felsenritz. Der Dummling sah sich um, da stand ein kleines graues Männchen neben ihm, zu dem sprach er: ‘Gott gesegne dich!’ – ‘Gott hat mich gesegnet in diesem Augenblick durch diese deine Worte’, antwortete das Männchen, ‘denn sie haben mich erlöst. Steig du in den Felsen hinab, da wirst du dein Glück finden.’ Der Dummling trat in den Felsen; viele Stufen führten ihn hinunter, und wie er unten hinkam, sah er die weiße Taube ganz von Spinnweben umstrickt und zugewebt. Wie sie ihn aber erblickte, brach sie hindurch; und als sie den letzten Faden zerrissen, stand eine schöne Prinzessin vor ihm, die hatte er auch erlöst. Und sie ward seine Gemahlin, und er ein reicher König, und regierte sein Land mit Weisheit.

In Günthers Kindermärchen 1787 S. 94 = 1857 S. 94 ‘Der treue Fuchs’. Siebenbürgisch bei Haltrich nr. 7 ‘Der goldene Vogel’ (der jüngste Bruder befreit drei Jungfrauen von Drachen und begnadigt seine treulosen Brüder). Heanzisch bei Bünker nr. 77 ‘Das Hurenkind’ = Zs. f. Volkskunde 8, 291 (Fuchs hilft). Tirolisch bei Zingerle Sagen 1859 S. 446 = KHM ² 1, 254 nr. 49 ‘Der blinde König’ = Simrock, Der gute Gerhard 1856 S. 80 (soll durch den Gesang des Phönix sehend werden; statt des Fuchses erscheint ein Wolf, der sich endlich als der Geist eines dankbaren Toten vorstellt; vgl. R. Köhler 1, 38). Zingerle 2, 157 ‘Der Vogel Phönix, das Wasser des Lebens und die Wunderblume’ (der hilfreiche Fuchs ist die verstoßene Mutter des Knaben, den die Wirtschafterin auf gefährliche Abenteuer aussendet). Aus Niederösterreich: Germania 27, 104 (Vogel, Jungfrau, Pferd, Wasser; Bär hilft). Aus dem Odenwalde bei Wolf, Hausmärchen S. 230 ‘Der Vogel Phönix’ (Bär hilft dem Ferdinand). Aus Holstein bei Wisser 1, 34 nr. 8 ‘Vagel Fenus’; 1, 41 nr. 9 ‘De goll’n Vagel’ (Fuchs).

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Bolte, Jiří Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm I. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1913, Seite 504. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Grimms_M%C3%A4rchen_Anmerkungen_(Bolte_Polivka)_I_504.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)