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„Mit Urlaub?“

„Mit Urlaub? Hat sich was! Ich fahre ins Dorf und damit basta. In den Trancheen ist es zum Krepieren langweilig, im Dorf ist es aber jetzt wunderschön. Vielleicht komme ich im Herbst zurück, wenn es sich so machen sollte.“

Die Soldaten der großen revolutionären Armee fühlen sich durchaus als Herren der Situation. Die Zupfgeige klirrt und die Ziehharmonika dudelt; dazwischen erschallt das Kreischen des weiblichen Anhanges und Kraftwörter, die der Russe „dreistöckig“ nennt, schwirren durch den Waggon.

Im Nebenabteil ist ein Streit entstanden: ein Soldat nötigt die alte Dame, die am Fenster sitzt, den Platz seinem weiblichen Anhange zu überlassen. „Du hast in deinem Leben genug auf weichen Polstern gesessen,“ sagt er, „jetzt sind wir an der Reihe. Also, mach mal Platz.“

Die alte Dame remonstriert empört, aber man macht mit ihr wenig Federlesens, ihre Sachen fliegen krachend in den Korridor hinaus, und sie ergreift nun die Flucht, verfolgt von dem schallenden Gelächter der Soldaten und ihres weiblichen Anhanges. Die Dame wendet sich an einige Offiziere, die im Korridor stehen, doch diese zucken die Achseln, sie können der alten Dame nicht helfen, sie müssen froh sein, daß die Soldaten der freien revolutionären Armee sie nicht an die Luft setzen. Sie drücken sich an die Wand, wenn ein Genosse vorübergeht und sie geflissentlich anstößt.

Die dritte Glocke ist schon längst ertönt, aber der Zug steht noch immer am Bahnsteig, denn noch immer strömen Soldaten der großen revolutionären Armee herbei, die mitfahren wollen. Die Waggons sind schon lange überfüllt, die Soldaten sitzen auf den Plattformen und auf den Dächern. Dort oben geht es ganz besonders heiter zu, die Harmonika gellt und die Leute lassen ein Lied erschallen,

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Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/115&oldid=- (Version vom 1.8.2018)