zu sitzen, der sie interessiert; es braucht durchaus kein Adonis zu sein, dem sie ihre Kräfte opfert, bis der Oberarzt sie mit Gewalt aus dem Lazarett entfernt, sondern es kann ein ganz gewöhnlicher pockennarbiger, stumpfnasiger und wild verbarteter Muschitschok sein, der ihr weiches Herz durch seine Hilflosigkeit, durch seine mit stammelnder Zunge vorgebrachten Erzählungen von seinem Weibe, das er natürlich prügelt, und von seinen Kinderchen, die natürlich aufwachsen wie die Blumen auf dem Felde, rührt. Sie bekommt es fertig um „ihren“ Kranken, wenn er trotz aller ärztlichen Kunst gestorben, Ströme von Tränen zu vergießen, für ihr letztes Geld einen Blumenstrauß zu kaufen und dem elenden Brettersarge mit den zerhackten und zerschossenen Überresten des armen Sidor oder Karp wersteweit bis zum Friedhof zu folgen und dort inbrünstig um das Seelenheil des Hingeschiedenen zu beten.
Es ist schwer, sich ein ganz zutreffendes Bild von der Sestriza zu machen, denn sie kann pflichttreu und aufopfernd wie ein Held und unglaublich nachlässig und zerfahren sein. Sie kann im wildesten Geschützfeuer ruhig ihrer Pflicht nachgehen und Beweise wahrhaften Heldenmutes liefern, um dann wenige Stunden später in Gesellschaft von Offizieren oder anderen jungen Leuten laut schwatzend und lachend mit wehenden Röcken und flatterndem Kopftuch durch die Straßen zu fegen, oder sich in Kaffeehäusern, Theatern und Konzertsälen in einer Weise zu benehmen, die den Zorn der Gerechten im Lande herausfordert.
Es läßt sich nicht leugnen, Sestriza ist trotz der frommen Tracht, die sie trägt, keine Heilige, aber ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt und sie wird noch viel lieben, solange ihr kleines, törichtes Herz schlagen wird.
Der Dualismus, der die russische Volksseele zerfrißt, ist auch der Sestriza eigen, und er findet seinen ganz prägnanten
Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/119&oldid=- (Version vom 1.8.2018)