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Dem Eifer der „Nowoje Wremja“ und der Kreise, deren Sprachrohr sie bildete, genügte die Verfolgung der Reichsdeutschen bald nicht mehr. Je mehr die auf den Schlachtfeldern erlittenen Schlappen sich häuften, um so stärker machte sich das Bedürfnis nach Ablenkung geltend. Man konnte doch unmöglich zugeben, daß die Armee schlecht vorbereitet und schlecht ausgerüstet war, daß in Zivil- und Heeresverwaltung neben Unvernunft und Unfähigkeit schreiende Mißbräuche herrschten. Das konnte man doch nicht zugeben, man mußte also nach „Schuldigen“ suchen, und sie wurden bald gefunden. Man entdeckte sie in der Person der deutschen Kolonisten, die seit anderthalb Jahrhunderten an der Wolga und in Südrußland saßen und keinerlei Beziehungen zum einstigen Mutterlande unterhielten, dagegen aber an deutscher Art, deutscher Sprache und dem lutherischen Bekenntnis zäh festhielten; man fand sie in der Person der baltischen Deutschen, die nun der abscheulichsten Verbrechen, wie des Vaterlandsverrates, der Spionage usw. geziehen wurden und Drangsalierungen schlimmster Art zu erdulden hatten.

Die „Nowoje Vremja“ entsandte spezielle Mitarbeiter in die genannten Gebiete, die immer neue Lügen und Verleumdungen erfanden und sie urbi et orbi verkündeten, ohne daß sich eine Stimme gefunden hätte, die für die Deutschen russischer Untertanenschaft eingetreten wäre. Man siedelte die Kolonisten von ihren Wohnsitzen aus und ruinierte sie vollständig, wobei man vergaß, daß die Brachlegung gewaltiger Landstrecken die Verpflegungsnot verschärfen mußte, was denn auch prompt eintrat; man verschickte hunderte baltischer Deutscher auf haltlose Denunziationen und ganz vage Verdachtsgründe hin. Man verbot deutsche Zeitungen, den Gebrauch der deutschen Sprache, den Druck deutscher Bücher, löste deutsche Schulen auf, kurzum, man suchte alles Deutsche mit Stumpf und Stiel auszurotten, und schließlich ging die Verrücktheit so weit, daß man russische Offiziere deutschen

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Oskar Grosberg: Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution. C. F. Amelang, Leipzig 1918, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:GrosbergRussischeSchattenbilder.pdf/40&oldid=- (Version vom 1.8.2018)