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diese schlechthin aus eigener Macht durch eine Andersrechtssetzung die Schranke des Rechts umgestalten kann. Nur dann erscheint die Souveränetät einer Staatsgewalt ihrem Wesen nach alteriert, wenn diese unbedingt dulden muss, dass in einer von ihr unableitbaren Weise eine dritte Macht über den Bestand der innerstaatlichen Rechtsordnung oder gewisser Stücke derselben verfügt. Nach aussen hin bedingt aber zweitens das Höchst-Sein der souveränen Staatsgewalt das Freisein von jedwelchem staatsrechtlichen Unterordnungsverhältnis gegenüber einem anderen Staatswillen, kraft dessen dieser eigenständig, sei es mit Aufsicht und Leitung gegenüber den Organen des untergebenen Staates, sei es mit direkten Anordnungen gegenüber der Untertanenschaft des letzteren, eingreifen kann. Die Beziehung einer staatsrechtlichen Unterordnung ist durchaus von der Beziehung einer völkerrechtlichen Unterordnung im Verhältnis von Staat zu Staat zu scheiden. Im letzteren Fall wurzelt die Unterordnung rechtlich in den an sich dennoch gleichgeordnet bleibenden Willen beider beteiligten Staaten und ihr Entstehungsgrund ist lediglich ein völkerrechtlicher Vertrag. Im ersten Fall dagegen ist es der eigenständige, übergeordnete Staatswille, auf welchem rechtlich das Unterordnungsverhältnis des anderen Staats entscheidend beruht, welcher durch eine entsprechende direkte oder indirekte Betätigung seiner Rechtsnormierungsfunktion diesen Staat als Untertan sich aneignet, mag auch eine Einwilligungserklärung von selten desselben vorangegangen sein. Über die Dauer eines völkerrechtlichen Unterordnungsverhältnisses zwischen Staat und Staat entscheiden eventuell die Regeln des Völkerrechts über die Endigung von Völkerverträgen. Die Dauer eines staatsrechtlichen Unterordnungsverhältnisses richtet sich eventuell nach den Völkerrechtsnormen über den Untergang der Staaten bezw. der Staatsherrschaft. Das Vorliegen eines völkerrechtlichen Unterordnungsverhältnisses nimmt der Staatsgewalt an sich nicht den Charakter der Souveränetät, des Höchst-Seins in ihrer Sphäre, gleichgültig ob die Unterordnung nur auf Beaufsichtigung, Leitung oder sogar direkte Vertretung bezüglich des internationalen Verkehrs gerichtet ist, oder ob auch die inneren Verhältnisse der mittelbaren oder unmittelbaren Einwirkung des übergeordneten Staates erschlossen sind. Denn alle diese Beschränkungen des Staatswillens beruhen hier rechtlich auf einer Selbstbindung, welcher der untergebene Staat sich kraft Völkerrechts durch Kündigung in allen entscheidenden Fällen – nicht bloss bei Vertragsbruch des übergeordneten Staates, sondern auch nach Massgabe der clausula rebus sie stantibus – einseitig entledigen darf. Nur ein staatsrechtliches Unterordnungsverhältnis, welches für den übergeordneten Staat gegenüber dem untergebenen Staat eine eigenständige und unbedingt von diesem nicht einseitig lösbare Einwirkungsmacht mit sich bringt, schliesst die Souveränetät aus, und „nichtsouverän“ sind daher alle in einem derartigen staatsrechtlichen Unterordnungsverhältnis befindlichen Staaten.[1]

Die Souveränetät ist jedenfalls ein einheitlicher Begriff. Es gibt nicht zwei von einander zu sondernde und unabhängige Souveränetäten, wie man zum Teil gemeint hat, nämlich eine völkerrechtliche Souveränetät, deren Inhalt die Freiheit von der Herrschaft anderer Gemeinwesen sei, und eine staatsrechtliche Souveränetät mit der Überordnung über alle innerhalb des Staatsgebietes befindlichen Personen und Korporationen als Inhalt. Die Staatsgewalt, für welche eventuell der Besitz der Souveränetät in Frage kommt, ist immer ein Machtbegriff einheitlicher Art, mag es sich um die Beziehungen nach innen oder nach aussen handeln. Das staatsrechtliche Unterordnungsverhältnis, in welchem sich ein Staat befindet und das des letzteren Souveränetät schlechthin ausschliesst, braucht gar nicht eine direkte Ordnungsmacht des übergeordneten Staats für die inneren Verhältnisse des untergebenen Staates mit sich zu bringen, sondern kann sich auf die Beherrschung der äusseren Bewegung des untergebenen Staates beschränken. Andererseits kann ein


  1. Der Begriff „Halbsouveränetät“ läuft logisch auf eine Unklarheit hinaus, da es nur „zur Hälfte höchste Gewalten“ an sich nicht gibt. Er wird am besten aus Wissenschaft und Praxis ganz verbannt, da selbst seine besondere Beziehung auf die Stellung der in völkerrechtlichen Unterordnungsverhältnissen befindlichen Staaten zur Verdunkelung des rechtlichen Tatbestandes beitrüge, dass derartige Staaten an sich doch souverän sind. Er ist eigentlich ein Verlegenheitsausdruck, entstanden zu einer Zeit, als man Souveränetät zu den Essentialien des Staatsbegriffes überhaupt rechnete und doch die Tatsache erklären wollte, dass gewisse Verbände, die unzweifelhaft nicht unabhängig waren, in mancher Hinsicht, namentlich im internationalen Verkehr, dennoch wie souveräne Staaten handelten.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 81. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/101&oldid=- (Version vom 13.7.2021)