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völkerrechtliches Unterordnungsverhältnis selbst mit der bloss vertragsmässig begründeten Macht, in die inneren Verhältnisse des untergebenen Staates mit Befehl und Zwang direkt einzugreifen, ausgestattet sein.[1]

B. Staatenverbindungen und Staatenbündnisse. Der geschichtlichen Erfahrung nach sind die Staaten bisher der Regel nach einfache oder Einheitsstaaten gewesen, d. h. Verbände eines bestimmten ansässigen Staatsvolks, dessen innere und äussere Beziehungen im letzten Ende schlechthin einheitlich der Wille einer einzigen eigenständigen Befehlsmacht gestalten durfte. Seit jeher hat sich aber zwischen den Staaten, bei denen das Gemeinschaftsbewusstsein gewisser Kulturelemente sich ausbildete, auch ein gegenseitiger Verkehr entwickelt, dessen sich mehr und mehr befestigende Grundlage ein Inbegriff von Rechtsnormen wurde, welche von der gemeinen Überzeugung der Verkehrsgenossen als notwendige Verkehrsbasis verstanden und demgemäss fortan konstant beobachtet wurden. Zu diesen aus der gemeinen Rechtsüberzeugung der Verkehrsstaaten geflossenen und durch unmittelbare konstante Anwendung in den konkreten Fällen bestätigten Rechtsnormen gesellte sich im Verlaufe der Entwicklung eine zweite Gruppe von Rechtsvorschriften, welche die Verkehrsstaaten als eigenständige Herrschaftsfaktoren im Wege der „Vereinbarung“ (eines „rechtsetzenden Staatsvertrags“) als eine sie gleichfalls in Zukunft notwendig bindende objektive Verkehrsbasis formulierten.[2] Das auf diese zwiefache Art entstandene und in seiner Existenz als ein umfassendes Rechtsnormen-System zu allgemeiner Erkenntnis gediehene „Völkerrecht“ ist nunmehr die Rechtsordnung für den gegenseitigen Verkehr aller an dem modernen Kulturbegriff anteilhabenden Staaten der Welt. Die Völkerrechtsgemeinschaft, in welcher diese Kulturstaaten der Welt stehen, ist lediglich eine Gemeinschaft objektiven Rechts. Nur der Wille, der in objektiven Rechtsnormen enthalten, steht über den Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft. Eine Subjektivierung des im objektiven Völkerrecht begriffenen Willensinhalts in einer personenrechtlichen Instanz, die gegenüber den einzelnen Kulturstaaten mit eigenständiger Autorität für die konkrete Befolgung des Völkerrechts zu sorgen hätte, ist bisher der Völkerrechtsgemeinschaft fremd geblieben. Die Zugehörigkeit zur Völkerrechtsgemeinschaft hat daher auch den etwa vorhandenen Besitz der Souveränetät an keiner Stelle schmälern können. Der Eintritt in die Völkerrechtsgemeinschaft war überhaupt für die in Frage kommenden Kulturstaaten jeweilig eine Tat rechtlich freier Selbstbindung, und die Freiheit der Selbstbestimmung gegenüber den Normen des Völkerrechts bewährt sich auch immer in dem fundamentalen Rechtssatz, dass an sich jeder Staat selbst der Ausleger des Völkerrechts für seine eigenen internationalen Beziehungen ist.

Auf der Basis des objektiven Völkerrechts haben die Kulturstaaten seit jeher ihre Beziehungen durch Staatsverträge ausgestaltet, besondere subjektive Rechte und Pflichten an sich Gleichgeordneter unter einander begründend. Insbesondere sind durch Staatsvertrag zwischen manchen Staaten Gemeinschaften zur Verfolgung bestimmter gemeinschaftlicher Zwecke mit gemeinschaftlicher Kraft errichtet worden (Staatengesellschaften, Staatensozietäten). Andererseits sind auch ohne Staatsvertrag durch unmittelbare Wirkung von Völkerrechtssätzen in gewissen Fällen Rechtsgemeinschaften mit besonderen subjektiven Rechten und Pflichten der Einzelnen unter bestimmten Kulturstaaten entstanden (völkerrechtliche communio incidens). Derartige Gemeinschaftsverhältnisse von Staaten konnten und können von vorübergehender oder dauernder Natur sein. Für die dauerhaften, durch Staatsvertrag begründeten Gemeinschaftsverhältnisse ist der technische Name „Staatenverbindung“ aufgekommen. Andererseits treten den auf völkerrechtlichem Grunde entstandenen Staatenverbindungen auch „staatsrechtliche Staatenverbindungen“ gegenüber. Diesen eignet ebenfalls die Eigenschaft der Dauer, aber ihre Rechtsbasis ist das Staatsrecht, der Wille einer eigenständigen, die Einzelstaaten als untertänige Glieder der Verbindung sich aneignenden und in derselben unbedingt festhaltenden Herrschermacht. Bei der durch Staatsvertrag vorübergehend oder dauerhaft in Aussicht genommenen gemeinschaftlichen Zweckverfolgung konnte und kann es sich um Aufgaben sowohl kultureller, als politischer Art handeln d. h. im letzten Fall um solche Zwecke, bei denen die Staaten als Machtfaktoren


  1. Vgl. Wiener Schlussakte v. 15. V. 1820 Art. 25 f. Ebers, Staatenbund S. 293.
  2. Vgl. zu den Begriffen „Staatsvertrag“ und „Vereinbarung“ allerdings auch Triepel S. 47 f andererseits aber Hubrich, internationales Recht und internationale Rechtsgemeinschaft in den „Grenzboten“ 1913, S. 530 f.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/102&oldid=- (Version vom 15.7.2021)