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Schwerter, das weltliche und das geistliche. Daher ist jede andere Gewalt von der päpstlichen abgeleitet. Der Papst übt die Lehensoberherrlichkeit über alle christlichen Staaten, auch über das deutsche Reich. Der deutsche Kaiser muss ihm folgerichtig den Vasalleneid leisten. Staat und Kirche verhalten sich wie Körper und Geist, Mond und Sonne, Blei und Gold. Daher hat die Staatsgewalt der Kirchengewalt in allem dienstbar zu sein. Sie muss der Kirche das weltliche Schwert, das brachium saeculare auf den Blick und nach Willen des Priesters zur Verfügung stellen. Der Kaiser muss dem Papst den Steigbügel halten. Der Staat muss die katholische Glaubenseinheit bewahren, muss die Urteile der kirchlichen Gerichte vollstrecken. Die Päpste ihrerseits haben das Recht, Staatsgesetze aufzuheben, Könige zu entthronen und die Throne wieder zu besetzen. Von der Unterwerfung unter diese Gewalt ist nach den Schlussworten der Bulle Unam Sanctam das ewige Seelenheil abhängig. Die notwendige reale Basis der päpstlichen Universalherrschaft endlich ist der weltliche Herrschaftsbesitz, der Kirchenstaat. Er ist das Annex der königlichen Gewalt und zugleich die als unentbehrlich geachtete Voraussetzung für die unbehinderte Ausübung der geistlichen. Dieses kirchenpolitische System bezeichnet man passend als mittelalterliches Kirchenstaatstum. Der Staat eingeschlossen, umklammert vom Kirchentum. Der Kirchenstaat der Boden, der es erzeugt, von dem aus es seine universelle Wirkung geübt, auf dem sich zuletzt sein Schicksal erfüllt hat. Unter der freiwilligen Unterordnung der ganzen abendländischen Welt hat es sich drei Jahrhunderte lang durchgesetzt.

Seit dem 14. Jahrhundert bereitet sich eine Umkehr der Herrschaftsverhältnisse vor. Der weiteren tatsächlichen Verwirklichung des Kirchenstaatstums wurde je länger je mehr der Boden entzogen. Renaissance, Reformation, Staatsabsolutismus zerstören die Bedingungen der päpstlichen Ein- und Alleinherrschaft. Es bildet und behauptet sich bis tief in das 18. Jahrhundert ein kirchenpolitisches System, das man als Gegenbild des vorigen zutreffend mit Staatskirchentum bezeichnet. Freilich nur eine Kollektivbezeichnung. Denn je nach der Eigenart von Staaten und Herrscherpersönlichkeiten bot sich das System bei aller Einheit des Grundgedankens in ungemein reicher geschichtlicher Ausprägung dar. Es reproduzieren und variieren sich in ihm die Gedanken des Byzantinismus. Von den mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Erscheinungsformen im Abendland seien drei genannt. Unmittelbar die päpstliche Theokratie im alten deutschen Reiche ablösend der Caesareopapismus zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert. Der Kaiser selbst ist ein Papst. Er geht dem Papste vor. Das Problem von Staat und Kirche hat sich zu einer Personenfrage zugespitzt. Der Kaiser, die Kurfürsten und anderen Fürsten haben ihre Gewalt ebenfalls unmittelbar und selbständig von Gott. Diese Erkenntnis war von der Wissenschaft gekommen. Dante, Marsilius von Padua waren die führenden Geister. In grossen geschichtlichen Ereignissen trat der Umschwung der Machtverhältnisse hervor, im Siege Ludwigs des Bayern über Johann XXII, in den Beschlüssen des Kurvereins zu Rense, in der goldenen Bulle, in der energischen Zurückweisung der päpstlichen Machtansprüche durch die Landesherrn (Dux Cliviae est Papa in suis terris), in den hundert Beschwerden endlich der deutschen Nation, in denen die weltlichen Reichsstände drohen, die vom Papst vernachlässigte Verbesserung des Kirchenwesens selbst vorzunehmen. Die centum gravamina stehen bereits an der Schwelle der Reformation. Diese ihrerseits hat eine besondere Erscheinungsform des Staatskirchentums im sogenannten Territorialismus der protestantischen Staatswesen gezeitigt. Seine Blütezeit liegt im 16. bis 18. Jahrhundert. Seine Haupterkenntnisquelle sind die Kirchen- und Konsistorialordnungen dieser Zeit. An sich stand der Territorialismus durchaus im Widerspruch mit der Tatsache und den Prinzipien der Reformation. Diese hatte die hierarchische Einheit der Kirche zerbrochen und den Staat zuerst zwei, seit Ende des 16. Jahrhunderts drei Konfessionskirchen gegenübergestellt. Die folgerichtige Entwickelung wäre schon damals der paritätische Staat und die sachliche Scheidung der staatlichen und kirchlichen Zuständigkeitsgebiete gewesen. So mögen wir heute logisch kalkulieren. Aber in der unendlichen Kompliziertheit der geschichtlichen Realitäten lagen damals noch unermessliche Hindernisse. Vor allem eines: Herrscher und Staaten waren in der Religionsfrage noch nicht geschieden. Jene hatten, in zwei Lager geteilt, persönlich für und gegen die Reformation gekämpft. In die gleichen Lager teilten sich, mit wenigen Ausnahmen, die Staaten selbst. Sie waren konfessionell, katholische oder protestantische Religionsstaaten. Der Herrscher hatte das Bestimmungsrecht.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/110&oldid=- (Version vom 17.7.2021)