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und unterschiedener Organismus anerkannt. Konsequent ist die Differenzierung noch nicht durchgeführt, das Mass der Staatsaufsicht noch nicht überall richtig begrenzt, aber die Zukunft ist in allen entscheidenden Umrissen erkennbar. Das Verhältnis von Staat und Kirche soll auf die Grundlage gestellt werden, dass, weil sie in ihrem Wesen verschieden sind, auch ihr rechtliches Verhältnis mit Unterscheidung ihrer Organe und Zuständigkeiten geordnet werde. Der Staat müsse sich darauf beschränken, über die äusseren Rechtsverhältnisse der Kirchen- und Religionsgesellschaften eine aufsehende, ordnende und schützende Kirchenhoheit, als Teil seiner allgemeinen Staatshoheit, auszuüben, ihr dagegen für ihre inneren Verhältnisse Freiheit und Autonomie gewähren. Diese Ziele sind aus dem allgemeinen Zug der Entwickelung deutlich zu erkennen. Auf deutschem Boden geschichtlich bedingt war dieser Übergang zum System der Staatskirchenhoheit, wie man es passend nennt, durch den Reflex der grossen politischen Umwälzungen auf das Kirchenwesen am Anfang des 19. Jahrhunderts. Durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und die Rheinbundsakte von 1806 war im alten Reich so zu sagen kein Stein mehr auf dem andern geblieben, waren alte Territorien zertrümmert, neue Staaten gegründet. In ihnen waren durch die Ländergeometrie die Konfessionen bunt durcheinandergewürfelt. Der Konfessionsstaat war zerbrochen. Die in ihm dargestellte Einheit von Staaten und Kirchen war durch den Zusammenbruch des alten Reiches tatsächlich aufgelöst. Damit war die Entwickelung unwiderruflich auf die Linie des modern paritätischen Staates geschoben. In dem Anerkenntnis der Wesensverschiedenheit von Staat und Kirche waren nunmehr auch die inneren Bedingungen für das System der Staatskirchenhoheit gesetzt. Im Anschluss an das Preussische Allgemeine Landrecht hat es sich, zögerlich zuerst noch in der Gesetzgebung der deutschen Rheinbundsstaaten, allgemein sodann während des deutschen Bundes, im Zusammenhang mit der Einführung der konstitutionellen Staatsformen, in den Verfassungen des 19. Jahrhunderts entwickelt und durchgesetzt. Zuerst in Bayern in der Verfassung vom 26. Mai 1818, zuletzt in Preussen in der Verfassung vom 31. Januar 1850. Es ist das in Deutschland herrschende kirchenpolitische System der Gegenwart.

Sein Rechtsinhalt wird demnächst besonders zu prüfen sein. Vorerst aber sind auch die Schlussreihen der geschichtlichen Tatsachen des 19. und begonnenen 20. Jahrhunderts noch vollständig zu ordnen und die kirchenpolitischen Gesamtergebnisse zu würdigen. Denn parallel mit dem System der Kirchenhoheit haben sich noch zwei weitere Vorstellungen über die grundsätzliche Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche gebildet, welche, ohne sich im ganzen durchsetzen zu können, jenes doch widerspruchsvoll beeinflusst haben und auch in der Kirchenpolitik der Gegenwart eine entscheidende Rolle spielen.

Die eine dieser Vorstellungsreihen steht noch auf der Linie des Einheitsgedankens und wurde überwiegend von evangelischer Seite eingeführt. Es ist die Vorstellung vom interkonfessionell christlichen Staat. Das System des Staatschristentums hatte seinen geschichtlichen Anknüpfungspunkt in einem bekannten und merkwürdigen Vorgang. Nachdem durch die zuvor geschilderten Ereignisse die staatlich gezogene Scheidewand zwischen den Konfessionen gefallen und unter den Gerichten der Völkerkriege eine allgemeine religiöse Stimmung geboren war, lag die praktische Verwertung des allgemein Christlichen für das Staatsleben so zu sagen im Geist der Zeit. Er nahm Fleisch und Blut an in der heiligen Alliance vom September 1815. In Alexander I. von Russland, Franz I. von Österreich und Friedrich Wilhelm III. von Preussen schlossen die europäischen Repräsentanten der drei grossen christlichen Kirchen einen Bund, um „über den Zwiespalt des Bekenntnisses hinaus das Christentum zum höchsten Gesetz des Völkerlebens zu erheben“. Internationale Verwirklichung konnte der phantastische Plan nie finden. Wohl aber hat er Spuren in das national staatskirchliche Leben gezeichnet. In Deutschland hat er die Idee vom christlichen Staat propagandiert. Literarisch und parlamentarisch wurde sie hier mit Geist und Temperament vertreten. Ihre Vertretung ist mit dem Namen der Minister Eichhorn, v. Bodelschwingh, v. Mühler, der Professoren Stahl und Thiersch, auch Bismarcks eng verknüpft. Bei jedem mit einem im einzelnen besonders gearteten Programm und einem nach Beruf und Gelegenheit verschiedenartigen Zweck. Gemeinsam ist nur die Forderung, dass der Staat sich zwar nicht mehr mit einer bestimmten Konfessionskirche zu identifizieren, wohl aber für seine Einrichtungen einen allgemein interkonfessionell

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/112&oldid=- (Version vom 17.7.2021)