Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/115

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

und phrasenhaft wird diese Episode noch immer als „Kulturkampf“ weitergeführt. Nicht handelte es sich dabei um einen Kampf für oder gegen die Kultur, sondern um die nüchterne Aufgabe der Absteckung der rechtlichen Grenzen der Kirchenhoheit des Staates. Die Preussische Maigesetzgebung war die unerlässlich notwendige Ausführungsgesetzgebung zu Art. 15 der Verfassung. Ihr Verhängnis war nur, dass sie um zwei Jahrzehnte zu spät und in einer durch das Vatikanum verschuldeten ohnehin vorhandenen Spannung zwischen den Staaten und der katholischen Kirche erfolgte. Ihr Fehler war, dass sie bei musterhaft massvoller und gerechter Anlage im ganzen doch im einzelnen sich kleinlicher und verärgender Mittel, wie der Bestrafung des Messelesens, eines besonderen Staatsexamens für Theologen oder der Sperre der Staatsmittel gegen nicht staatstreue Pfarrer und Bischöfe, bediente. Das partielle Verwerfungsurteil übertrug sich zu Unrecht auf das ganze. Diese Fehler wurden aber durch die spätere Revisions- und Novellengesetzgebung mehr als wieder gut gemacht. Die katholische Kirche in Preussen hat am allerwenigsten Anlass, über Beeinträchtigung ihrer Freiheit Klage zu führen. Die Staaten andererseits denken nicht daran, ihre Verhältnisordnung zu den Kirchen auf das alte System der Überspannung der Staatsgewalt zurückzuschrauben und in Tätigkeitsgebiete überzugreifen, welche ihrem Wesen fremd sind. Auch im Verhältnis zur evangelischen Kirche ist das alte Staatskirchentum beseitigt und hat keine Aussicht, sich wieder zu beleben. Zwar besteht das landesherrliche Kirchenregiment fort. Aber es ist seines territorialistisch staatskirchlichen Charakters entkleidet, wird in Staaten mit katholischen Landesfürsten von besonderen evangelischen Kirchenregimentsbehörden ausgeübt und findet überall seine Grenze in der durch die neueren Kirchengemeinde- und Synodalordnungen den evangelischen Landeskirchen gewährten Autonomie und Selbstverwaltung.

So wenig wie diese beiden geschlossenen Einheitssysteme können Staatschristentum oder Koordination als Verhältnisformen im ganzen noch weiter in Frage kommen. Der sittlich und religiös ansprechenden Idee vom christlichen Staat fehlt die tatsächliche Voraussetzung der Realisierbarkeit zunächst schon darin, dass es ein ausschliesslich christliches Volkstum im modernen Staate nicht mehr gibt. Um das System durchzuführen, müsste man im Namen des Christentums die Gewissensfreiheit wieder vernichten, müsste den Grundsatz der Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis zurückziehen. Es gibt ferner überhaupt kein für das Recht verwendbares interkonfessionelles Christentum. So bringen an die staatliche Ordnung des Schulwesens, des Eherechts, selbst des Strafrechts Katholizismus und Protestantismus verschiedene Auffassungen und Ansprüche heran. Aber angenommen endlich, es gäbe ein solches juristisch fassbares Christentum mit interkonfessionellem Inhalt, so müsste es doch erst ermittelt und in einer für die Gesetzgebung brauchbaren Weise formuliert werden. Diese Ermittelung und Formulierung wäre Aufgabe des Staats. Das System beruft also den Staat zum Gesetzgeber in Glaubenssachen. Das Staatschristentum würde unentrinnbar zum Staatskirchentum zurückführen. Der wirkliche Wahrheitsgehalt in der christlichen Staatsidee, die dem Volksleben diensame Berücksichtigung der Religion im öffentlichen Leben, kommt reiner und wirksamer im Rahmen des Systems der Kirchenhoheit durch diejenigen Massnahmen zur Geltung, welche man, wie sich noch weiter ergeben wird, unter dem Begriff der Advokatie des Staates zusammenfasst. Die christliche Staatsidee in ihrer Einheit und Gesamtheit wird wohl von keinem ernsthaft zu nehmenden Politiker der Gegenwart mehr verteidigt, in einzelnen Folgerungen ist sie das kirchenpolitische Ideal der konservativen Parteien geblieben. Andrerseits ist die Koordinationstheorie das ausgesprochene kirchenpolitische Programm der deutschen Zentrumspartei. Dies erklärt sich leicht. Der mittelalterliche Anspruch auf Unterordnung des Staates unter die Kirchenhierarchie war durch die Begründung des modernen Staates endgültig abgelehnt und ohne Reproduktion des kanonischen Rechts nicht mehr durchführbar. Die politische Vertretung des Katholizismus im neuen deutschen Reich konnte konstitutionellen Einfluss unmöglich durch ein System gewinnen, welches an allen Flächen und Kanten den geschichtlichen Tatsachen und den modernen Geiste widersprach. In dem Anspruch der rechtlichen Gleichordnung hat man den Ersatz für die verlorene Überordnung gesucht. Die geistigen Führer haben literarisch und parlamentarisch ihr kirchenpolitisches Programm alsbald nach den Grundgedanken und Zielen des Koordinationssystems abgesteckt. Keine einseitige Grenzregulierung

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/115&oldid=- (Version vom 17.7.2021)