Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/118

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

kirchliche und religiöse Vereine sowie über geistliche Orden und Kongregationen durch § 24 des deutschen Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908 ausdrücklich aufrecht erhalten wurden. Religionsgesellschaften, welche Korporationsrechte noch nicht besitzen, können solche nach Art. 13 der Preussischen Verfassung nur im Wege der Gesetzgebung erlangen. Alle kraft des Reformationsrechts aufgenommenen Religionsgesellschaften geniessen Kultusfreiheit. In der Art ihrer Betätigung besteht freilich nach deutschem Recht immer noch eine bemerkenswerte Abstufung. In Preussen haben nach Art. 12 der Verfassung alle Religionsgesellschaften das Recht der freien öffentlichen Religionsübung. In Bayern dagegen besitzt eine Religionsgesellschaft, welche nicht ausdrücklich „als öffentliche aufgenommen“ ist, nur die freie Ausübung des „Privatgottesdienstes“, d. h. es sind ihr die Zeichen der Öffentlichkeit des Kultus, Kirchengebäude, Glocken u. a., versagt. Diese Beschränkung ist ein rückständiger Rest aus dem Staatskirchenrecht des Westfälischen Friedens. Die Beschränkungen der Kultusfreiheit, welche sich aus den Bedürfnissen der staatlichen Sicherheits- und Paritätspflege notwendig machen, werden unter Z. 4 zu erwähnen sein.

3. Der Grundsatzder materiellen Selbständigkeit der Kirchen- und Religionsgesellschaften in ihren inneren Angelegenheiten. Diese Selbständigkeit ist ein Fundamentalprinzip des Systems der Kirchenhoheit. Die Ordnung und Erhaltung des inneren Rechtslebens der Religionsgesellschaften ist das vorbehaltene Gebiet der Kirchengewalt. Nach dem Wesen der Sache gehört zu den rein inneren Angelegenheiten in erster Linie alles, was irgendwie Bestandteil von Lehre und Dogma ist. Jede Kirchen- und Religionsgesellschaft folgt hierin den Bedingungen ihrer eigenen geschichtlichen Entwickelung und ihrer Auffassung vom Wesen der menschlichen Freiheit im Verhältnis zu Gott. Insbesondere ist hiernach die volle Freiheit der kirchlichen Lehrgesetzgebung von staatlicher Beeinflussung in Anspruch zu nehmen. Dies gilt nicht nur im Verhältnis zur katholischen Lehrentwickelung durch die Dogmen der ökumenischen Konzilien und ex cathedra-Entscheidungen der Päpste, sondern auch im Verhältnis zur evangelischen Kirche; der hier auf die kirchliche Lehrgesetzgebung ausgeübte Einfluss des Landesherrn beruht nicht auf dem Titel der Kirchenhoheit des Staats, sondern auf dem geschichtlichen Grunde der landesherrlichen Kirchengewalt. Als Annex der Lehre gehören zu den rein inneren Kirchenangelegenheiten ferner Kultus, Liturgie und religiöser Unterricht. Endlich auch die Kirchenregierung in ihren spezifisch internen Funktionen. Die materiell kirchliche Selbständigkeit äussert sich in all diesen Beziehungen darin, dass der Staat keinerlei aktuelle Mitwirkung in Anspruch nimmt. Er ist im äussersten Falle darauf beschränkt, staatsgefährliche Einflüsse von Lehre und Kultus auf das bürgerliche Gebiet abzuwehren. Das notwendige Korrelat zu diesem Grundsatze ist andererseits der Grundsatz der rechtlichen Unterordnung der Kirchen- und Religionsgesellschaften unter den Staat in allen rein weltlichen Angelegenheiten. Hier verfügt der Staat allein, wie er allein auch darüber Bestimmung trifft, was zum Gebiete der rein weltlichen Angelegenheiten gehört. In dieser Grenzregulierung liegt der am tiefsten führende Wesensunterschied der Systeme der Kirchenhoheit und des Staatskirchentums. Dieses zog unterschiedslos alles Kirchliche und Religiöse in den Bereich der Staatskompetenz. Das System der Kirchenhoheit scheidet sorgfältig die dem Wesen des Staats grundsätzlich fremden Gebiete aus und reserviert für dessen Zuständigkeit nur das, was den ureigenen Zwecken und Aufgaben des Staates entspricht. Es unterscheidet sich darin in entgegengesetzter Richtung zugleich vom System des Kirchenstaatstums, welches unterschiedslos und grundsätzlich das gesamte bürgerliche und öffentliche Recht der kirchlichen Beherrschung unterzog. Das System der Kirchenhoheit schliesst die Herrschaft des kanonischen Rechts im Staatsleben aus.

4. Der Grundsatz der Staatsaufsicht in den gemischten Angelegenheiten. In diesem Anspruch liegt, wie vorgreifend schon hier bemerkt werden soll, einer der wesentlichen Gegensätze zu der Trennung von Kirche und Staat. Unter gemischten Angelegenheiten sind solche zu verstehen, welche an sich wohl zu den Funktionen der Kirchenregierung gehören, gleichwohl aber tatsächliche und darum unvermeidlich auch von der Rechtsordnung zu respektierende Beziehungen zum Staate, zur Gesellschaft, zur gesamten bürgerlichen Ordnung in sich tragen. Dadurch entsteht der Unterschied der sacra externa von der sacra interna.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/118&oldid=- (Version vom 17.7.2021)